OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 23.01.2024 - 13 A 10945/22.OVG - asyl.net: M32163
https://www.asyl.net/rsdb/m32163
Leitsatz:

Besonders schutzbedürftigen Anerkannten droht in Italien unmenschliche oder erniedrigende Behandlung:

"1. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung [...] fest, wonach in Italien anerkannt Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Italien insbesondere im Zeitraum unmittelbar nach der Wiedereinreise die Obdachlosigkeit im Sinne einer dauerhaften Wohnungslosigkeit droht. Soweit das Verwaltungsgericht Trier dieser Lageeinschätzung jüngst entgegengetreten ist (vgl. VG Trier, Urteil vom 29. November 2023 8 K 3466/23.TR , n.v., gegen das der Senat die Berufung zugelassen hat), überzeugt dies nicht. Zwar hat sich die Zahl der im SAI vorgehaltenen Plätze zwischenzeitlich um insgesamt 8.025 erhöht, dem stand im gesamten Jahr 2023 jedoch die Zahl von über 157.000 Schutzsuchenden gegenüber, die Italien allein auf der sogenannten Mittelmeerroute erreichten. Selbst unter der Prämisse, dass ein bedeutender Teil dieser Personen Italien zeitnah wieder in andere europäische Staaten verlassen sollte, und unter der weiteren Vorannahme, dass eine Unterbringung im SAI nur für die Dauer von sechs Monaten gewährt wird (mit indes weiteren chartarelevanten Konsequenzen für die Aufnahmesituation anerkannt Schutzsuchender), änderte dies nichts daran, dass die Aufnahmekapazitäten des SAI schon bei ausschließlicher Beachtung der neu ankommenden Bootsflüchtlinge rechnerisch um mindestens den Faktor 2 überlastet sind.

2. Anders als dies bei alleinstehenden Erwachsenen ohne individuelle Sonderrisikofaktoren der Fall ist [...], ist die drohende Obdachlosigkeit nach Maßgabe u.a. der Rechtsprechung des EGMR (Urteil vom Urteil vom 4. November 2014 Nr. 29217/12 [Tarakhel] ) und des EuGH (Urteil vom 19. März 2019 Rs. C-297/17 [Ibrahim] ) dann hinreichend für die Annahme einer mit Art. 4 GRC (bzw. Art. 3 EMRK) unvereinbaren Aufnahmesituation, wenn es sich bei den Betroffenen um Angehörige einer besonders vulnerablen Personengruppe hier einer Familie mit einem erst dreijährigen Kind handelt, von deren gemeinsamer Rückkehr nach Italien grundsätzlich auch bei einer heterogenen Flucht- und Anerkennungsgeschichte auszugehen ist (Anschluss an VGH BW, Urteil vom 7. Juli 2022 A 4 S 3696/21 ). In diesen Fällen muss die nach der Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR notwendige Zusicherung der italienischen Stellen, dass den Betroffenen jedenfalls eine Wohnungsnahme ermöglicht wird, zwingend vorab eingeholt werden, da sie ansonsten nicht mehr in die Rückkehrgefährdungsprognose eingestellt werden kann.

3. Die Prognose, dass anerkannt Schutzberechtigte im Zielstaat (auch) durch Dritte, namentlich Familienangehörige und/oder soziale Netzwerke hinreichend unterstützt werden könnten, muss ihrerseits auf belastbaren Feststellungen beruhen, denn diese Personen müssten jedenfalls übergangsweise nahezu die gesamte Lebensführung der Betroffenen einschließlich der Wohnungskosten finanzieren können. Insoweit wäre es beispielsweise ein gewichtiges Indiz, dass eine entsprechende Unterstützung bereits während eines Voraufenthalts im Zielstaat oder auch noch in der Bundesrepublik erfolgt(e)."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.03.2023 - 13 A 10948/22.OVG - asyl.net: M31478; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 - asyl.net: M31148; siehe auch: VGH Bayern, Beschluss vom 27.09.2023 - 24 B 22.30953 - asyl.net: M31862, OVG Thüringen, Beschluss vom 31.05.2023 - 2 ZKO 355/22 - asyl.net: M31664; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, besonders schutzbedürftig, Familienangehörige, Kindeswohl, Kinder, Obdachlosigkeit, Aufnahmebedingungen, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Wohnungslosigkeit
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

27 Die zulässige Klage ist begründet. [...]

28 a. Die durch die Beklagte mit dem bereits in Italien zuerkannten Flüchtlingsstatus begründete Ablehnung des Asylantrags als unzulässig findet ihre Rechtsgrundlage zunächst in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. [...]

29 b. Diese Unzulässigkeitsentscheidung ist hier indessen mit höherrangigem Unionsrecht unvereinbar, denn die Klägerin würde im Falle ihrer Rückkehr nach Italien in eine Aufnahmesituation entlassen, die mit Art. 4 GRC unvereinbar wäre [...]. Der Senat hat seiner Rückkehrgefährdungsprognose dabei die Situation zugrunde zu legen, die entstünde, wenn die Klägerin gemeinsam mit ihrem am ... 2020 geborenen Kind nach Italien zurückkehrte [...]. Ob darüber hinaus auch der Kindsvater, der nach Angaben der Klägerin in familiärer Lebensgemeinschaft mit ihr und dem gemeinsamen Kind lebe [...], seiner Familie nach Italien folgen würde [...], kann im Ergebnis offenbleiben (siehe hierzu unten bb.).

30 aa. Zur Lage anerkannt Schutzberechtigter in Italien hat der Senat in seiner, den Beteiligten bekannten, Grundsatzentscheidung vom 27. März 2023 [...] zusammengefasst festgestellt, dass anerkannt Schutzberechtigten – und zwar unabhängig von der Frage ihrer besonderen Vulnerabilität – im Falle der Rückkehr nach Italien die Obdachlosigkeit drohe [...]. Soweit das Verwaltungsgericht Trier jüngst dieser Lageeinschätzung entgegengetreten ist [...], überzeugt dies nicht. [...]

31 Das Verwaltungsgericht meint in der vorgenannten Entscheidung implizit, dass die durch den Senat geäußerten "Bedenken" gegen die Aufnahmefähigkeit des Unterbringungssystems (SAI) für anerkannt Schutzberechtigte auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage beruhten. [...]

32 Hierbei verkennt das Verwaltungsgericht Trier, dass der Senat diese – im Übrigen auch durch das Verwaltungsgericht selbst nicht getroffenen – Feststellungen schon deshalb nicht dezidiert zu treffen hatte, weil er nach den getroffenen Feststellungen zu den Kapazitäten und Belastungen des SAI bereits den gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO belastbaren Schluss auf eine völlige Überlastung desselben ziehen konnte – und auch weiter ziehen kann. [...]

39 Die durch das Verwaltungsgericht Trier ausgewertete, aktuellere Erkenntnismittellage ändert nichts an dieser andauernden Überlastungssituation. [...]

40 Selbst die Zugrundelegung dieser nunmehr um insgesamt 8.025 Plätze erhöhten Kapazität des SAI ändert indessen nichts an der bereits mit Senatsurteil vom 27. März 2023 [...] festgestellten Überlastungssituation, die der Senat u.a. anhand der hohen Anzahl allein an "Bootsflüchtlingen" [...] exemplifizierte. Dies wird durch die aktuellen Zahlen des UNHCR bestätigt, wonach im gesamten Jahr 2023 insgesamt 157.314 Schutzsuchende allein über die sogenannte Mittelmeerroute in Italien angekommen sind [...]. Selbst unter der Prämisse, dass ein bedeutender Teil dieser Personen Italien zeitnah wieder in andere europäische Staaten verlassen sollte und unter der weiteren Vorannahme, dass eine Unterbringung im SAI nur für die Dauer von sechs Monaten gewährt wird [...], änderte dies nichts daran, dass die Aufnahmekapazitäten des SAI schon bei ausschließlicher Beachtung der neu ankommenden "Bootsflüchtlinge" rechnerisch um den Faktor 2 (!) überlastet sind [...], zumal sich hierunter auch eine signifikante Zahl  vulnerabler Personen befindet – namentlich Kinder und deren Eltern(teile) (vgl. UNHCR, a.a.O.). Nähme man nun noch die Zahl der im Rahmen der europäischen Sekundärmigration nach Italien zurückkehrenden Personen und die sonstigen Gruppen – namentlich die ukrainischen Kriegsflüchtlinge (s.o.) – hinzu, die ebenfalls einen grundsätzlichen Anspruch auf Unterbringung im SAI besitzen, würde sich dieser Faktor sogar noch weiter signifikant verschlechtern. [...]

42 bb. Steht damit fest, dass die Klägerin gemeinsam mit ihrem dreijährigen Kind in die Obdachlosigkeit entlassen würde, fände sie sich in einer Lage wieder, in der sie unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen nicht mehr in der Lage wäre, einer dem Gewährleistungsgehalt des Art. 4 GRC zuwiderlaufenden Situation zu entfliehen. Es handelte sich dann – bedingt schon durch das geringe Alter des Kindes der Klägerin mit einem damit einhergehenden besonderen Betreuungsbedarf – um eine vulnerable Personengruppe, hinsichtlich derer im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs [...] ein höherer Versorgungsbedarf notwendig ist, um die Anforderungen des Art. 4 GRC zu wahren. [...]

43 An der bis hierhin vorgenommenen Rückkehrgefährdungsprognose würde sich auch dann nichts ändern, wenn die Klägerin nicht nur gemeinsam mit ihrem Kind, sondern auch zusammen mit dem Kindsvater nach Italien zurückkehren würde. Auch in diesem Fall würde die Familie auf absehbare Zeit in die Obdachlosigkeit entlassen werden und es käme nicht mehr entscheidungserheblich auf die Frage an, ob die Eltern durch eine arbeitsteilige Kindesbetreuung in Verbindung mit einer Arbeitsaufnahme die Mittel für eine den Anforderungen des Art. 4 GRC genügende Lebensführung erwirtschaften könnten.

44 Auch sonst liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin, respektive ihre Familienangehörigen, im Einzelfall über Mittel verfügten, die eine günstigere Rückkehrgefährdungsprognose zuließen. Soweit hierzu namentlich die (finanzielle) Hilfe durch im In- oder Ausland lebende Familienangehörige infrage kommt, ist jedenfalls die Feststellung notwendig, dass diese Familienangehörigen tatsächlich eine hinreichende (finanzielle) Unterstützung zu leisten imstand wären, denn sie müssten jedenfalls übergangsweise nahezu die gesamte Lebensführung der Betroffenen einschließlich der Wohnungskosten finanzieren können. [...]