VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 09.02.2024 - 3 A 710/23 - asyl.net: M32166
https://www.asyl.net/rsdb/m32166
Leitsatz:

Abschiebungsverbot hinsichtlich Montenegros wegen drohender Verelendung:

1. Die humanitäre Lage für Rom*nja in Montenegro ist besorgniserregend.

2. Ein psychisch erkrankter und an einer Herzerkrankung leidender Mann, der der Minderheit der Rom*nja angehört und in Montenegro kein tragfähiges Familiennetzwerk hat, wird nicht in der Lage sein, bei Rückkehr ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es ist davon auszugehen, dass ihm Verelendung droht und er in eine ausweglose Lage gerät.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Montenegro, Roma, Krankheit, Abschiebungsverbot, psychische Erkrankung, Diskriminierung, Obdachlosigkeit, sichere Herkunftsstaaten,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, VwVfG § 51, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29a
Auszüge:

[...]

Hieran gemessen hat der Kläger durch die Vorlage der aktuellen Atteste und ärztlichen Stellungnahmen taugliche neue Beweismittel vorgelegt, so dass ein beachtlicher Wiederaufgreifensgrund vorliegt. Die Beklagte ist auch zu verpflichten, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. [...]

Da Rückführungen von Deutschland nach Montenegro ausschließlich auf dem Luftweg erfolgen (vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes im Hinblick auf die Einstufung von Montenegro als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG von April 2023, Seite 19), ist davon auszugehen, dass der Kläger über den Flughafen Podgorica nach Montenegro zurückkehren würde.

Die humanitäre Lage für Roma - zu denen der Kläger gehört - ist in Podgorica und im übrigen Montenegro besorgniserregend. Im Gegensatz zur guten Integration der eingesessenen kroatischen, bosniakischen und albanischen Minderheiten leben die teils als Flüchtlinge aus dem Kosovo nach Montenegro gekommenen, teils aber bereits seit Jahrzehnten in Montenegro ansässigen insgesamt rund 12.000 Roma (Roma/BalkanÄgypter/Ashkali) am Rande der Gesellschaft. [...] Das Bildungs- und Beschäftigungsniveau der Roma liegt deutlich unter dem aller anderen Bevölkerungsgruppen in Montenegro. Zwar sind verlässliche Angaben über Schulkarriere und Beschäftigung von Roma nicht erhältlich, doch geben die verfügbaren, von offizieller Seite oder Regierungsorganisationen genannten Zahlen Anhaltspunkte zum Ausmaß des Problems. Die Arbeitslosenquote in der Gesamtbevölkerung liegt bei ca. 19 Prozent, unter den Roma bei ca. 82 Prozent. Roma sind in ihrem Alltag mit anderen Bevölkerungsgruppen Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt, die sich vornehmlich unter sozialen Gesichtspunkten erklären lassen. Die Schwierigkeiten dieser Gemeinschaft auf dem Arbeitsmarkt sind neben dem niedrigen Ausbildungsniveau auch auf eine geringere Bereitschaft zurückzuführen, Roma einzustellen (Bericht des Auswärtigen Amtes im Hinblick auf die Einstufung von Montenegro als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG von April 2023, Seite 10f.).

Nach Maßgabe dessen ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger, für den keine begünstigenden Umstände vorliegen, im Falle einer Abschiebung nach Montenegro in eine ausweglose Situation geraten würde.

Der Kläger hat glaubhaft gemacht, dass er nicht auf ein tragfähiges Familiennetzwerk in Montenegro zurückgreifen kann; insoweit wird auf seine schriftsätzlichen Ausführungen im Klageverfahren Bezug genommen, die das Gericht als plausibel erachtet. Der Kläger wäre mithin bei einer Ausreise auf sich gestellt und könnte nach seinen Angaben, an deren Glaubhaftigkeit das Gericht keinen Anlass zu Zweifeln hat, auch nicht auf ausreichende sonstige soziale Verbindungen in seinem Heimatland oder Vermögenswerte zurückgreifen.

Der Kläger wäre nach seinem glaubhaften Vortrag, der durch die vorgelegten ärztlichen Atteste gestützt wird, nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu sichern. Abgesehen davon, dass er als Roma nach dem oben Ausgeführten Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben dürfte und es fraglich ist, ob er überhaupt Arbeitsangebote erhalten würde, steht für das Gericht nach Auswertung der im Verfahren vorgelegten Unterlagen fest, dass der Kläger derart erhebliche gesundheitliche Einschränkungen hat, dass ihm die Teilhabe am Arbeitsleben gravierend erschwert, wenn nicht gar unmöglich sein dürfte.

Aus dem vorgelegten Arztbrief der ... Klinik vom ... 2023 ergibt sich, dass der Kläger an einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome und an einer Panikstörung leide. Im Jahr ... habe er einen Herzinfarkt erlitten, welcher bei seiner Tochter ... behandelt worden sei, er habe fünf Stents bekommen. Eine Antidepressiva-Behandlung werde trotz erhöhter Blutdruckwerte begonnen. Aus einem weiteren Bericht der ... Klinik vom ... 2023 geht hervor, dass aus ärztlicher Sicht eine Fortsetzung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung angezeigt sei. [...]

Der Kläger kann auch nicht auf die Inanspruchnahme staatlicher Hilfe verwiesen werden. Die Grundversorgung findet in Montenegro oft durch die Großfamilie statt. Eine staatliche Versorgung durch Sozialhilfe ist dem Umfang nach nicht ausreichend. Sozialleistungen werden (Stand 23. Februar 2023) für Einzelpersonen monatlich in Höhe von 80,23 Euro gewährt (vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes im Hinblick auf die Einstufung von Montenegro als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG von April 2023, Seite 17). Dieser Betrag wird, sofern der Kläger ihn überhaupt erhält, aber nicht genügen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Der Bruttodurchschnittsverdienst in Montenegro beträgt im Vergleich ca. 890 Euro (IOM, Länderinformationsblatt Montenegro 2022, Seite 7).

Es wäre für den Kläger bereits voraussichtlich auch nicht möglich, zeitnah eine Unterkunft zu finden. Es gibt keine Unterkünfte, in denen Rückkehrende nach ihrer Rückkehr vorübergehend bleiben könnten. [...]

Der Kläger wird daher nicht in der Lage sein, bei einer Rückkehr nach Montenegro ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass ihm im Falle einer Abschiebung Verelendung und ein sich weiter verschlechternder Gesundheitszustand drohen würde (vgl. grundsätzlich zur medizinischen Versorgung in Montenegro auch IOM, Länderinformationsblatt Montenegro 2022). Nach Maßgabe dessen ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger, für welchen keine begünstigenden Umstände vorliegen, im Falle einer Abschiebung nach Montenegro in eine ausweglose Situation geraten würde. [...]