VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Beschluss vom 09.02.2024 - 6 L 1243/23.A - asyl.net: M32167
https://www.asyl.net/rsdb/m32167
Leitsatz:

Systemische Mängel im Aufnahmesystem Belgiens:

Aufgrund der systematischen Verwehrung des Rechts auf Unterbringung von alleinstehenden männlichen Asylantragstellern droht diesen in Belgien eine Verletzung von Art. 3 EMRK.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Belgien, vorläufiger Rechtsschutz, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Abschiebungsanordnung, alleinstehende Männer, Aufnahmebedingungen
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a), VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG dürften vorliegend jedoch nicht (mehr) erfüllt sein. Ausgehend von den Erkenntnismitteln, die der Antragsteller im vorliegenden Verfahren sowie im Anhörungsrügeverfahren mit Blick auf die Aufnahmebedingungen in Belgien vorgelegt hat sowie unter Berücksichtigung weiterer dem Gericht zur Verfügung stehender Erkenntnismittel spricht Überwiegendes dafür, dass die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Schutzgesuches des Antragstellers von Belgien auf die Antragsgegnerin übergegangen ist. [...]

Die ursprüngliche Zuständigkeit Belgiens dürfte jedoch bei (erneuter) summarischer Prüfung nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO entfallen sein. Nach dieser Regelung setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta (GRCh) mit sich bringen. Kann keine Überstellung an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat. [...]

Ausgehend hiervon dürfte dem Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bei summarischer Prüfung für den Fall seiner Rücküberstellung nach Belgien die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK drohen. Er würde dort voraussichtlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten und seine elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können. Ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlich eine längere Periode der Obdachlosigkeit.

Der Antragsteller würde im Falle seiner Rückkehr nach Belgien aller Voraussicht nach als Folgeantragsteller gelten. Denn zum einen ist sein Asylerstantrag in Belgien bereits abgelehnt worden. Zum anderen werden Personen, die – wie hier der Antragsteller – auf der Grundlage der Dublin III-VO nach Belgien überstellt werden, in der Regel als Folgeantragsteller behandelt (vgl. dazu: Asylum Information Database (AIDA), Country Report Belgium, 2022 Update (Stand: 21. April 2023), S. 65 und 109).

Grundsätzlich haben Folgeantragsteller während der Prüfung ihres Verfahrens das Recht auf Versorgung. Das Gesetz sieht jedoch die Möglichkeit vor, die Unterbringung von Folgeantragstellern zu verweigern, bis ihr Asylantrag von der zuständigen Behörde (Commissariat général aux réfugiés et aux apatrides) für zulässig befunden wird. Erstantragsteller steht nach nationalem belgischen Recht ab Asylantragstellung ein Recht auf Unterbringung zu (vgl. AIDA, Country Report: Belgium, S. 94; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Belgien (nachfolgend: Länderinformation), Gesamtaktualisierung am 19. Dezember 2023, S. 19).

Das Recht auf Unterbringung wird alleinstehenden männlichen Asylantragstellern, unabhängig davon, ob es sich um Erst- oder Folgeantragsteller handelt, jedoch systematisch verwehrt (vgl. nur: EGMR, Pressemitteilung vom 18. Juli 2023, abrufbar unter: hudoc.echr.coe.int/engpress; zuletzt abgerufen am 8. Februar 2023). [...]