VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 21.02.2007 - 5 K 20025/03 Me - asyl.net: M10057
https://www.asyl.net/rsdb/M10057
Leitsatz:

Gefahr der sippenhaftähnlichen Gefährdung für Angehörige von Oppositionellen (hier: aktives Mitglied einer kommunistischen Gruppe) in Syrien.

 

Schlagwörter: Syrien, Oppositionelle, Kommunisten, Sippenhaft, Geheimdienst, Verhaftung, Folter, Misshandlungen, Kommunistische Partei Syriens - Politbüro
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Gefahr der sippenhaftähnlichen Gefährdung für Angehörige von Oppositionellen (hier: aktives Mitglied einer kommunistischen Gruppe) in Syrien.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBI. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

Hiernach haben die Klägerinnen im Falle ihrer Rückkehr beachtlich wahrscheinlich mit asylrelevanter Verfolgung zu rechnen. Anwendbar ist der sogenannte herabgestufte Prognosemaßstab, da die Klägerinnen vorverfolgt ihr Heimatland verlassen haben. Dies gilt zumal für die Klägerin zu 1., die sowohl in der Bundesamtsanhörung als auch in der mündlichen Verhandlung am 21.02.2007 glaubhaft und nachvollziehbar geschildert hat, dass und in welcher Weise sie nach der Verhaftung ihres Ehemannes das Interesse des Geheimdienstes auf sich gezogen hat.

Die Partei, der Riad Al-Turk vorsteht und die sich in Abgrenzung zu anderen linken Gruppierungen "Kommunistische Partei Syriens-Politbüro" nennt, wodurch sie sich insbesondere von der Kommunistischen Partei Syriens unterscheidet, ist verboten (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Saarlouis vom 09.03.2005). In der Vergangenheit wurden insbesondere Mitglieder dieser Partei politisch verfolgt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 17.03.2006, S. 11), auch wenn ihr Führer Riad Al-Turk - aus Altersgründen offenbar - mittlerweile aus langjähriger Haft entlassen worden ist (vgl. Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 22.11.2004 an VG Saarlouis).

Die Situation ist für Festgenommene wesentlich schlechter, wenn Geheimdienste tätig werden. In deren Bereich kommen unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Drohungen gegen Leib und Leben sowie gegen Familienangehörige vor. Dabei wird zwar keine Sippenhaft praktiziert, aber insbesondere Familienangehörige, die über Gesuchte Auskunft geben könnten, werden belangt (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 23). Die Schilderungen der Klägerin zu 1. decken sich mit den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Dieses führt in seiner Auskunft vom 13.04.2005 an das VG Ansbach sogar aus, dass Sippenhaft nicht ausgeschlossen werden könne und oftmals die Familie durch Verhöre unter Druck gesetzt werde, um einen Gesuchten zu finden. In einigen Fällen, in denen Männer sich oppositionell-politisch betätigt hätten, seien deren Ehefrauen durch regelmäßige Vorlagen eingeschüchtert worden (vgl. des weiteren Auskunft vom Auswärtigen Amt vom 27.12.2004 an VG Würzburg). Entsprechend hat der VGH Baden-Württemberg mit Urteil vom 06.09.2001 (A 2 S 2249/98) festgestellt, dass die syrische Regierung zwar seit Mitte der 90er Jahre von einer Sippenhaft weitgehend Abstand genommen habe und Familienangehörige zwar noch befragt oder zu Verhören inhaftiert werden könnten, aber keine länger dauernden Repressionen mehr befürchten müssten. Sofern ein Geheimdienst ein gesteigertes Interesse an der Vernehmung oder Verhaftung einer Person habe, entspreche es aber der Praxis, Freunde, Bekannte und Verwandte vorzuladen und einzuschüchtern; hierdurch wolle man die betreffende Person dazu bewegen, sich zu stellen oder Auskunft über deren Aufenthalt zu erlangen. Zur Frage der Misshandlungen sei keine eindeutige Antwort möglich, es entspreche jedoch ständiger Praxis, jede Art von Verhör oder Festnahme durch körperliche Züchtigungen oder Misshandlungen einzuleiten (UA S. 25, 27). Sippenhaft oder sippenhaftähnliche Maßnahmen drohen hiernach den Angehörigen als gefährlich eingestufter Regimegegner, die von den Sicherheitskräften mit Nachdruck gesucht werden, also etwa - je nach Schwere des Tatvorwurfs - den Ehepartnern speziell verfolgter Personenkreise, wie z. B. aktiven Mitgliedern kommunistischer Gruppen bzw. Parteien.

Die im Zeitpunkt der von der Klägerin zu 1. geschilderten Vorfälle erst 14 bzw. 11 Jahre alten Klägerinnen zu 2. und zu 3. sind nicht lediglich auf einen Anspruch nach § 26 Abs. 4 AsylVfG verwiesen, vielmehr steht ihnen jeweils ein eigener Anspruch nach § 60 Abs. 1 AufenthG zur Seite, da sie jedenfalls im Falle einer Rückkehr nunmehr ebenfalls mit einer Festnahme und Verhören durch den Geheimdienst wegen der Aktivitäten ihres Vaters zu rechnen hätten.