VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 10.01.2007 - 5 K 20256/03.Me - asyl.net: M10257
https://www.asyl.net/rsdb/M10257
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung bei Verfolgung wegen der Religion ist nicht auf das "religiöse Existenzminimum" beschränkt; Flüchtlingsanerkennung wegen Übertritts zum Christentum; vermehrte Verfolgung seit Amtsantritt von Präsident Ahmadinedschad im Iran; Gefahr von Repressalien wegen Gottesdienstbesuchs.

 

Schlagwörter: Iran, Konversion, Apostasie, Christen (evangelische), Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungshandlung, Diskriminierung, Ahmadinedschad
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. b
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung bei Verfolgung wegen der Religion ist nicht auf das "religiöse Existenzminimum" beschränkt; Flüchtlingsanerkennung wegen Übertritts zum Christentum; vermehrte Verfolgung seit Amtsantritt von Präsident Ahmadinedschad im Iran; Gefahr von Repressalien wegen Gottesdienstbesuchs.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

Dem Kläger steht jedoch ein Anspruch nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Grund seiner in Deutschland vollzogenen Abkehr vom moslemischen (schiitischen) Glauben und der Hinwendung zum christlichen Glauben zur Seite.

Die erkennende Kammer übersieht nicht, dass ein Sachverhalt, wie der vorliegende, der die religiösen Aktivitäten eines "normalen" christlichen (evangelischen) Gemeindemitglieds zum Gegenstand hat, d.h. keine Aktivitäten von hauptamtlichen Pfarrern oder an exponierter Stelle stehenden Laienpredigern betrifft, (bisher jedenfalls) nach weit überwiegender obergerichtlicher Rechtsprechung weder einen Anspruch nach Art. 16 a Abs. 1 GG noch nach § 60 Abs. 1 AufenthG begründet hat. Die bisherige (obergerichtliche) Rechtsprechung war unter Auswertung der Erkenntnismaterialien des Deutschen Orient-Instituts, von amnesty international sowie von Stellungnahmen der kirchlichen Einrichtungen von folgenden Grundsätzen ausgegangen (vgl. nur SächsOVG, U. v. 04.05.2005, A 2B 524/04 und die darin aufgeführte Rechtsprechung sowie die verarbeitete Erkenntnisquellenlage; vgl. ferner AA, Lagebericht vom 21.09.2006, S. 20 f.; Deutsches Orient-Institut vom 10.04.2006 an VG Trier, AA vom 02.08.2005 an VG Trier, vom 15.06.2005 an VG Koblenz und vom 30.05.2005 an VG Bayreuth; ferner aus jüngster Zeit BayVGH, B. v. 12.07.2006, 14 ZB 06.30513): Das (staatliche) iranische Strafgesetzbuch sieht keinen Straftatbestand für einen Religionswechsel (Apostasie) vor, wohl aber ist dieser nach religiösem Recht strafbar. Vor diesem Hintergrund droht einem Iraner bei Rückkehr in sein Heimatland jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung im Falle einer Konversion im Ausland, sofern der Sachverhalt den dortigen Behörden überhaupt bekannt werde, auch nicht, wenn er seine Glaubensüberzeugung im Drittland öffentlich bekundet und - nach überwiegender Auffassung - selbst dann nicht, wenn er im Drittland entsprechend seinem Glauben missioniert. Ob im Iran der Besuch öffentlicher Gottesdienste bzw. eine Bekundung des christlichen Glaubens in sonstiger Weise in der Öffentlichkeit möglich ist, wird weniger einheitlich beantwortet.

Einhellig wird dagegen ausgeführt, dass das Verbot der Missionierung von Christen im Iran - anders als im Drittland - eine absolute Schranke darstellt, bei deren Überschreiten es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu staatlichen Repressionen kommen werde. Die bisherige Rechtsprechung ging ferner ganz überwiegend davon aus, dass die im Iran möglicherweise problematische Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten und die Missionierungstätigkeit vom Asylgrundrecht (ebenso wie von § 60 Abs. 1 AufenthG) nicht umfasst würden, vielmehr insoweit lediglich das religiöse Existenzminimum (forum internum) geschützt werde, welches aber im Iran gewährleistet sei (vgl. dazu BVerwG, U. v. 20.01.2004, 1 C 9/03, worin zugleich die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesem Aspekt zusammengefasst wird).

Dieser insbesondere auf dem Grundsatz des religiösen Existenzminimums basierenden Rechtsprechung vermag die Kammer im Hinblick darauf, dass § 60 Abs. 1 AufenthG jedenfalls seit dem 10.10.2006 im Lichte der RL auszulegen ist, nicht mehr zu folgen. Dabei ist noch einmal hervorzuheben, dass es sich bei dem Kläger des vorliegenden Falles keineswegs um einen Christen handelt, der sich innerhalb seiner Kirche in exponierter Stellung betätigt hat. Doch deutet alles darauf hin, dass der Begriff der Religion durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL eine erhebliche Ausweitung erfahren hat, die möglicherweise nach wie vor nicht den Umfang der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Art. 4 GG erreicht, wohl aber den Inhalt dessen, was die Rechtsprechung im materiellen Asylrecht unter dem religiösen Existenzminimum verstanden hat, erheblich überschreitet.

Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL umfasst der Begriff der Religion unter anderem auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich. Es ist nichts dafür erkennbar, dass die RL zwar den Begriff der Religion umfassend definiert, die Beeinträchtigung jedoch nur eines Ausschnitts (Kerngehalts) davon als verfolgungsrelevant ansieht. Daraus folgt, dass die bereits erwähnte Rechtsprechung zum religiösen Existenzminimum jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten werden kann (vgl. auch die Hinweise des Bundesministeriums des Innern vom 13.10.2006 zur Anwendung der RL, S. 9; ferner VGH Baden-Württemberg, U. v. 21.06.2006, A 2 S571/05 - zitiert nach juris). Allerdings ist nicht jede Diskriminierung in dem so verstandenen religiösen Schutzbereich zugleich auch Verfolgung wegen der Religion. Sie muss vielmehr das Maß überschreiten, dass lediglich zu einer durch die Diskriminierung eintretenden Bevorzugung Anderer führt, sich mithin also als ernsthafter Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen. Dies ist erst dann der Fall, wenn die auf die häuslich-private oder öffentliche Religionsausübung gerichtete Maßnahme zugleich auch mit einer Gefahr für Leib und Leben des Betroffenen verbunden ist oder zu einer verfolgungsrelevanten "Ausgrenzung" führt (vgl. VGH Baden-Württemberg, a.a.O.). Dementsprechend formuliert Art. 9 der RL, welche Handlungen Verfolgung im Sinne des Art. 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen. Nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. b RL können auch gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, Verfolgung sein.

Hiervon ausgehend hat der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Iran bei der öffentlichen Bekundung seines christlichen Glaubens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit mindestens administrativen Repressalien zu rechnen. Fraglich ist bereits vom Ansatz her, ob die Tatsache, dass nach der Erkenntnislage (vgl. Deutsches Orient-Institut vom 06.12.2004 an das SächsOVG) die Teilnahme an öffentlichen oder offiziellen Gottesdiensten christlicher Kirchen zwar nicht erlaubt, aber dennoch möglich ist, eine tragfähige Grundlage für die Annahme bildet, die öffentliche Teilnahme sei umfassend und dauerhaft gewährleistet, wie das SächsOVG (a.a.O.) meint. Vieles spricht dafür, dass vor diesem Hintergrund eine Vielzahl von gläubigen Christen im Iran aus Furcht vor staatlichen Repressalien von vornherein - sofern überhaupt möglich - zu christlichen Hausgemeinschaften Zuflucht nimmt. Bereits diese - wohl begründete - Furcht vor einer Verfolgung dürfte aber angesichts des durchaus auch subjektive Elemente enthaltenden Flüchtlingsbegriffs die Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 1 AufenthG erfüllen.

Hiervon abgesehen mehren sich die Hinweise, dass eine öffentliche Bekundung des christlichen Glaubens im Iran jedenfalls seit der Amtsübernahme von Präsident Ahmadinedschad zunehmend zu staatlichen Eingriffen führt. Mittelbar kommt dies zum Einen darin zum Ausdruck, dass der Präsident im November 2005 erklärt hat, die Regierung müsse die evangelikale Bewegung der Hausgemeinden stoppen (vgl. Gutachterliche Stellungnahme des Beauftragten der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers für die Seelsorge an Iranern vom 15.12.2005, S. 8 = Bl. 105 der Gerichtsakte). Von großer Bedeutung ist zum Anderen, dass der Iran für das Jahr 2006 an dritter Stelle auf dem Welt-Verfolgungs-Index des christlichen Hilfswerkes "open doors" steht, während er noch in den Jahren 2004 und 2005 den fünften Platz unter 50 Ländern belegte (vgl. VG Frankfurt/Main, U. v. 11.10.2006, 7 E 3612/04.A; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24.03.2006, S. 19 - ein entsprechender Hinweis befindet sich im jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21.09.2006 allerdings nicht mehr). Eine Verschlechterung der Lage der religiösen Minderheiten in Iran seit dem Amtsantritt von Präsident Ahmadinedschad stellt auch die Gesellschaft für bedrohte Völker in einer Meldung vom 07.06.2006 fest (Bl. 222 f. der Gerichtsakte). Sie seien im Iran ihres Lebens nicht sicher und würden zudem systematisch vom Geheimdienst überwacht. Ähnliches stellt auch die bereits erwähnte Organisation "open doors" am 09.10.2006 fest (vgl. Bl. 230 f. der Gerichtsakte).