VG Ansbach

Merkliste
Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 19.12.2006 - AN 1 K 06.30264 - asyl.net: M10287
https://www.asyl.net/rsdb/M10287
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Reformen, Menschenrechtslage, Meinungsfreiheit, Oppositionelle, European Syriac Union, ESU, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, Christen (syrisch-orthodoxe), Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter sowie der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG lagen zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht vor.

Eine Wiederholung der damals dem Kläger drohenden Verfolgungsmaßnahmen kann wegen der seit November 2002 in der Türkei umgesetzten Reformvorhaben mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.

Seit diesem Zeitpunkt hat die AKP-Regierungein umfangreiches gesetzgeberisches Reformprogramm verwirklicht, das als das umfassendste in der türkischen Geschichte seit den Atatürkschen Reformen in den 1920er Jahren gilt. Kernelemente der türkischen Reformpolitik, die vorsichtig bereits Anfang/Mitte 2002 von der Vorgängerregierung eingeleitet wurde (u.a. Abschaffung der Todesstrafe im August 2002) sind die - nach üblicher Zählung - acht "Reformpakete" aus den Jahren 2002 bis 2004.

Die Reformen standen in engem Zusammenhang mit dem Ziel des Beginns von EU-Beitritts-Verhandlungen, zielen aber erklärtermaßen auch auf eine weitere Demokratisierung der Türkei zum Wohle ihrer Bürger ab. Bestehende Implementierungsdefizite sind u. a. darauf zurückzuführen, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung und Justiz aufgrund ihrer Sozialisation im kemalistisch-laizistisch-nationalen Staatsverständnis Skepsis und Misstrauen gegenüber der islamisch-konservativen AKP-Regierung hegen und Reformschritte als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahrnehmen. In ihrer Berufspraxis setzen sie den Reformen großes Beharrungsvermögen entgegen und verteidigen damit aus ihrer Sicht das Staatsgefüge als Bollwerk gegen Separatismus und Islamismus. Die Regierung setzt sich nachdrücklich dafür ein, durch zahlreiche erklärende und anweisende Runderlasse die Implementierung der beschlossenen Reformen voranzutreiben und die sachgerechte Anwendung der Gesetze sicherzustellen. Besonders wichtige Posten, wie z. B. der des Gouverneurs der Provinz Diyarbakir, werden mit Persönlichkeiten besetzt, die das Reformwerk ausdrücklich unterstützen (zum Ganzen: Lagebericht des Auswärtigen Amtes Türkei vom 27. Juli 2006, Stand: Juni 2006).

Die Meinungsfreiheit in der Türkei endete aufgrund der früheren Gesetzeslage dort, wo Justiz und Sicherheitskräfte den Staat durch "Islamismus" oder "Separatismus" gefährdet sahen. Diese Gesetze wurden bereits in den letzten Jahren deutlich zugunsten des Bürgers modifiziert, so dass die Zahl der entsprechenden Anklagen und vor allem Verurteilungen bereits von 2003 bis 2005 kontinuierlich zurückging. Meinungsäußerungen, die nur Kritik beinhalten und die nicht beleidigend oder zersetzend gemeint sind, wurden nicht mehr bestraft. Die türkische Verfassung garantiert in Art. 26 die Freiheit der Meinungsäußerung. Durch mehrere Verfassungsänderungen und Änderungen des Strafrechts in den letzten Jahren wurde die Meinungsfreiheit gestärkt.

§ 301 Abs. 1 und 2 des am 1. Juni 2005 in Kraft getretenen Strafgesetzbuches stellen die Erniedrigung des Türkentums, der Republik sowie der staatlichen Organe und Einrichtungen unter Strafe. § 301 Abs. 4 tStGB bestimmt jedoch ausdrücklich, dass Meinungsäußerungen, die das Ziel haben, Kritik auszuüben, "keinen Tatbestand" haben, mithin nicht strafbar sind.

Im Zuge der genannten Reformen haben Verurteilungen wegen Meinungsdelikten drastisch abgenommen.

Eine Verurteilung des Klägers wegen der von ihm vorgetragenen Tätigkeit für die European Syriac Union (ESU) ist deshalb mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen.

Der Kläger ist zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr in die Türkei auch vor anderen asylerheblichen Repressionen, insbesondere vor Folter, hinreichend sicher.

Ist der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird diese nach Ankunft in der Türkei einer Routinekontrolle unterzogen, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalten kann. Abgeschobene können dabei in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten werden. Gleiches gilt, wenn jemand keine gültigen Reisedokumente vorweisen kann oder aus seinem Reisepass ersichtlich ist, dass er sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufgehalten hat. Die Einholung von Auskünften kann je nach Einreisezeitpunkt und dem Ort, an dem das Personenstandsregister geführt wird, einige Stunden dauern. In neuerer Zeit wurde dem Auswärtigen Amt nur ein Fall bekannt, in dem eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte. Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Insoweit handelt es sich jedoch nicht um asylerhebliche Vorgänge.

Dem Auswärtigen Amt ist seit fast vier Jahren kein einziger Fall bekannt, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde. In den letzten beiden Jahren wurde kein Fall an das Auswärtige Amt zur Überprüfung mit der Behauptung heran getragen, dass ein abgelehnter Asylbewerber nach Rückkehr misshandelt worden sei. Das Auswärtige Amt geht deshalb davon aus, dass bei abgeschobenen Personen die Gefahr einer Misshandlung bei Rückkehr in die Türkei nur aufgrund vor Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Bereich äußerst unwahrscheinlich ist. Misshandlung oder Folter allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, schließt das Auswärtige Amt aus (vgl. Lagebericht Türkei vom 27. Juli 2006).

Das erkennende Gericht schließt sich dieser Einschätzung an (vgl. auch Hessischer VGH vom 5.8.2002 - 12 UE 2172/99.A, OVG Nordrhein-Westfalen vom 27.6.2002 - 8 A 4782/99.A und vom 25.1.2000 - 8 A 1292/96.A; OVG Magdeburg vom 8.11.2000 - A 3 S 657/98; OVG Lüneburg vom 11.10.2000 - 2 L 4591/94; VGH Baden-Württemberg vom 10.11.1999 - A 12 S 2013/97, vom 2.4.1998 - A 12 S 1092/96, vom 2.7.1998 - A 12 S 1006/97 und - A 12 S 3031/96, vom 21.7.1998 - A 12 S 2806/96 sowie vom 22.7.1999 - A 12 S 1891/97 -).

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Das Bundesamt war befugt, hierzu (erstmals) eine negative Feststellung zu treffen (vgl. BVerwG vom 20.4.1999 - 9 C 29/98, InfAuslR 1999, 373).

Nach den dem Gericht vorliegenden und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen hat der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei auch wegen seiner Zugehörigkeit zur syrisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft keine staatlichen bzw. nichtstaatlichen Repressionsmaßnahmen zu befürchten. Laut dem Bericht des auswärtigen Amtes über die Asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei (Stand: Juni 2006) vom 27. Juli 2006 gibt es in der Türkei keine Personen oder Personengruppen, die allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Religion staatlichen Repressionen ausgesetzt sind. Nichtstaatliche Repressionsmaßnahmen treten sehr selten auf. Auch die vor bis einigen Jahren noch vorkommenden nichtstaatlichen Übergriffe gegen Syriani sind, soweit ersichtlich, seit längerer Zeit eingestellt. Status- und Besitzfragen sind jedoch auch weiterhin das ungelöste Hauptproblem für religiöse Minderheiten. Wenn es in den letzten zwei bis drei Jahren vereinzelt zu Übergriffen zwischen der muslimischen kurdischen Bevölkerung und syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei gekommen ist, ging es dabei um Streitigkeiten wegen Besitzfragen und Weiderechten, die andernorts in gleicher Weise zwischen Muslimen im Zusammenhang mit der Rückkehr in die Dörfer vorkommen. Die Religionszugehörigkeit spielt bei diesen Übergriffen keine ausschlaggebende Rolle.

Schließlich ist auch nichts dafür erkennbar, dass der Kläger wegen seiner Mitgliedschaft im Zentralkomitee der European Syriac Union (ESU) bei einer Rückkehr in die Türkei irgendwelche Beeinträchtigungen seitens der türkischen Behörden zu gewärtigen hat. Aus den vorliegenden Erkenntnisquellen lassen sich, wie bereits vom Bundesamt festgestellt, keinerlei Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die ESU in der Türkei Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist.