VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 27.04.2007 - 8 K 2544/06.A - asyl.net: M10371
https://www.asyl.net/rsdb/M10371
Leitsatz:

In der Türkei gibt es keine Gruppenverfolgung von Yeziden mehr; hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung (im Anschluss an OVG NRW, Urteil vom 14.2.2006 - 15 A 2119/02.A - (27 S., M8059)).

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, religiös motivierte Verfolgung, Verfolgungsdichte, Schutzbereitschaft, Sachaufklärungspflicht, Beweisantrag, Verfolgungssicherheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, zwingende Gründe, Religionsfreiheit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 108 Abs. 1
Auszüge:

In der Türkei gibt es keine Gruppenverfolgung von Yeziden mehr; hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung (im Anschluss an OVG NRW, Urteil vom 14.2.2006 - 15 A 2119/02.A - (27 S., M8059)).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist mit Haupt- und Hilfsantrag nicht begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 24.07.2006, mit dem die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter widerrufen worden ist, ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten. Er hat auch keinen Anspruch auf die Feststellungen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG oder des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Das anerkennende Urteil des VG Stade, das 1993 rechtskräftig geworden ist, (zu dessen Maßgeblichkeit vgl. BVerwG, U. v. 08.05.2003 - 1 C 15.02 -, NVwZ 2004, 113) beruhte auf der Auffassung, glaubensgebundene Jeziden unterlägen in ihren angestammten Siedlungsgebieten im Südosten der Türkei einer religiös motivierten Gruppenverfolgung; eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihnen in der Türkei auch in Istanbul nicht zur Verfügung.

Im Urteil vom 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A - hat das OVG NRW festgestellt, dass diese Situation sich inzwischen grundlegend geändert hat. Danach bestand im Februar 2006 keine beachtliche Wahrscheinlichkeit mehr dafür, dass Jeziden einer asylerheblichen Gruppenverfolgung in der Türkei ausgesetzt sind. Sofern die Angehörigen der Gruppe nach 2002 überhaupt von Verfolgungsschlägen getroffen worden sind - so das Urteil -, seien diese jedenfalls nicht mehr so dicht und eng gestreut gefallen, dass für jedes Gruppenmitglied die Furcht begründet sei, in eigener Person Opfer der Übergriffe zu werden. Die türkischen Staatsorgane seien zunehmend bereit und auch in der Lage, verfolgte Minderheiten und auch Jeziden gegenüber Übergriffen Dritter zu schützen.

Dieser Argumentation sind das VG Münster im Urteil vom 20.07.2006 - 3 K 1748104.A - und das erkennende Gericht im Urteil vom 25.08.2006 - 8 K 2322105.A - gefolgt.

Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht aus der Berücksichtigung des Gutachtens des Dipl.-Soziologen Azad Barfis für das OVG Sachsen-Anhalt vom 17.04.2006, der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Lüneburg vom 26.01.2007 (das dem Gericht als Ausdruck aus milo.bamf.de im Volltext vorliegt) und der von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Verfahren 8 K 1734/06.A vorgelegten ergänzenden Stellungnahme des Yezidischen Forums e.V. Oldenburg hierzu vom 20.03.2007.

Die Auskunft des Auswärtigen Amtes und die Stellungnahme des Yezidischen Forums behandeln ausgehend von dem Beweisbeschluss des OVG Lüneburg dieselben Einzelfälle wie die Stellungnahme des Yezidischen Forums vom 04.07.2006. Das Gericht bleibt bei seiner Einschätzung, dass die meisten der nunmehr aus unterschiedlichen Perspektiven geschilderten Vorfälle nicht als Beleg für eine Gruppenverfolgung geeignet sind.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den im Gutachten des Dipl.-Soziologen Azad Baris vom 17.04.2006 nur grob strukturiert aufgelisteten 40 Einzelfällen.

Zusammenfassend lässt sich weiterhin nicht feststellen, dass maßgeblich religiös motivierte Angriffe auf Leben und Gesundheit von Jeziden sich seit 2003 mehr als vereinzelt zugetragen haben. Dass solche Einzelfälle vorkommen können, hat auch das OVG NRW in seiner Entscheidung vom 14.02.2006 schon angenommen.

Zu der Frage, ob und in welchem Umfang es religiöse Übergriffe auf Jeziden in den traditionellen Siedlungsgebieten in der Türkei gibt, brauchte das Gericht weder auf Grund des in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrages noch von Amts wegen ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen. Die Frage, ob einer bestimmten Gruppe von Menschen insbesondere wegen ihres Volkstums, ihrer Rasse oder Religion politische Verfolgung droht, ist nicht nur eine tatsächliche Feststellung, sondern zugleich auch das Ergebnis einer auf Grund festgestellter Tatsachen erfolgten rechtlichen Würdigung. Die Bildung der dafür notwendigen richterlichen Überzeugung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine ausreichende Erforschung des Sachverhalts voraus. Die hier vorzunehmende Gefahrenprognose einer Gruppenverfolgung verlangt wegen der Vielzahl von Ungewissheiten über die asylrelevante Entwicklung eine sachgerechte, der jeweiligen Materie angemessene und methodisch einwandfreie Erarbeitung ihrer tatsächlichen Grundlagen. Dazu gehört es, alle möglichen und verfügbaren Erkenntnisquellen auszuschöpfen, um zu einer verlässlichen Beurteilung der Frage einer möglichen Gruppenverfolgung zu kommen. Das war hier auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel möglich.

Die vorstehende Auswertung der Lage der Jeziden im Südosten der Türkei ergibt nicht nur, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Gruppenverfolgung nicht mehr festzustellen ist, sondern auch, dass vorverfolgte Jeziden bei einer Rückkehr in ihre Heimat vor erneuter individueller Verfolgung hinreichend sicher sind. Für das Gericht verbleiben keine ernsthaften Zweifel daran, dass Jeziden im Südosten der Türkei vor erneut einsetzender Verfolgung sicher sind. Anhaltspunkte, die die Möglichkeit einer erneuten Verfolgung nicht ganz entfernt erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich. Auch der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert nicht, dass selbst vereinzelte künftige Verfolgungshandlungen auszuschließen sind.

Zur Änderung der Lage hinsichtlich der Schutzbereitschaft des türkischen Staates verweist das Gericht auf die entsprechenden Ausführungen im Urteil des OVG NRW vom 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A -, S. 23 ff., denen es folgt. Die Klägerin ist bei einer Rückkehr in die Türkei außerdem hinreichend sicher vor einer asylerheblichen Verletzung des religiösen Existenzminimums. Auch insoweit verweist das Gericht auf das genannte Urteil des OVG NRW, Bl. 26 f. des amtlichen Umdrucks.

Auch § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG steht dem Widerruf nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Eine Unzumutbarkeit in diesem Sinne lässt sich hier nicht aus den eingeschränkten Möglichkeiten der Religionsausübung, die auch im Rahmen von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erörtert worden ist, herleiten. Insofern kann nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG im Ergebnis kein anderer Maßstab gelten.