VG Neustadt a.d.W.

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Zitieren als:
VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 14.05.2007 - 3 K 1911/06.NW - asyl.net: M10386
https://www.asyl.net/rsdb/M10386
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Konversion zum Christentum; gem. Art. 10 Abs. 1 Bst. b der Qualifikationsrichtlinie führt auch Verfolgung wegen öffentlicher Religionsausübung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; es ist dem Einzelnen unzumutbar, seine Religionszugehörigkeit zu verschweigen oder zu leugnen.

 

Schlagwörter: Iran, Apostasie, Konversion, Christen (evangelische), religiös motivierte Verfolgung, Religion, Religionsfreiheit, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; EMRK Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung wegen Konversion zum Christentum; gem. Art. 10 Abs. 1 Bst. b der Qualifikationsrichtlinie führt auch Verfolgung wegen öffentlicher Religionsausübung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; es ist dem Einzelnen unzumutbar, seine Religionszugehörigkeit zu verschweigen oder zu leugnen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG.

Dem Kläger droht bei Rückkehr in den Iran wegen dieser Abkehr vom Islam und der Annahme des christlichen und von ihm gelebten Glaubens politische Verfolgung. Nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen und Auskünften hat er nämlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit staatlichen Zwangsmaßnahmen zu rechnen, wenn er seinen christlichen Glauben im Iran nach außen erkennbar vertritt, danach lebt und an religiösen Riten im öffentlichen Bereich oder in Gemeinschaft mit anderen teilnimmt.

Für § 60 Abs. 1 AufenthG gilt insoweit, dass asylrelevante Eingriffe nunmehr bereits dann anzunehmen sind, wenn die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen und nicht nur im privaten Bereich politische Verfolgung hervorruft. Nach Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b) der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten nämlich bei der Prüfung der Verfolgungsgründe zu berücksichtigen, dass der Begriff der Religion insbesondere die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten und öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen und Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf die religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind, umfasst.

Bei Zugrundelegung dieses Religionsbegriffs des Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie droht dem Kläger politische Verfolgung, weil sein religiöses Existenzminimum im Iran nicht gewährleistet ist. Insbesondere muss er bei Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich Verfolgung befürchten.

Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass konvertierte Muslime keine öffentlichen christlichen Gottesdienste besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden. Dies basiert darauf, dass nach islamischer Grundvorstellung kein Unterschied zwischen Staat und Glaubensgemeinschaft und zwischen Religion und Politik gemacht wird. Die Apostasie ist schlechterdings verboten (vgl. Deutsches Orient Institut, Gutachten vom 15. September 2000 an das VG Koblenz) und der Abfall vom "rechten" Glauben stellt damit einen hochverratsähnlichen Angriff auf das Staats- und Gesellschaftssystem dar. Auch wenn die Apostasie im iranischen Strafgesetzbuch keine Erwähnung findet, so bleibt jedenfalls für den Betroffenen die Gefahr bestehen, dass er als dem iranischen Staat gegenüber illoyaler Bürger angesehen wird. Die religiöse Toleranz gegenüber den (Buch-)Religionen wie dem Christentum endet damit jedenfalls dort, wo diese Religionen durch Missionierung in das muslimische Staatsvolk eindringen. Zusammenkünfte sind nur sonntags erlaubt und die dort Anwesenden werden von Sicherheitskräften durchsucht. Konvertiten müssen, sobald der Übertritt den Behörden bekannt wird, zum Informationsministerium, wo sie scharf verwarnt werden. Genügt dies nicht und sollten Konvertiten weiterhin in der Öffentlichkeit durch Besuche von Gottesdiensten oder ähnlichem auffallen, können sie mit Hilfe konstruierter Vorwürfe vor Gericht gestellt werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Christen und Christinnen im Iran vom 18. Oktober 2005). Zwar ging das Deutsche Orient Institut in seinem Gutachten vom 26. Februar 1999 ebenso wie amnesty international in seinem Gutachten vom 2. Februar 1999 noch davon aus, dass ein in den Iran zurückkehrender Apostat unbehelligt von den iranischen Behörden leben kann, wenn er seine Religionszugehörigkeit verschweigt oder leugnet. Unabhängig davon, ob dies nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2005 immer noch angenommen werden kann, kann nunmehr ohnehin davon ausgegangen werden, dass ein Leugnen oder Verschweigen der Religionszugehörigkeit dem einzelnen nach der Religionsfreiheit, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 9 Abs. 1 EMRK) verankert ist, nicht zumutbar ist. Folglich geht das Gericht davon aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Iran seinen christlichen Glauben nicht ausleben kann und insbesondere nicht an religiösen Riten wie öffentlichen Gottesdiensten teilnehmen kann, ohne dass ihm eine Festnahme oder eine Inhaftierung bevorstehen könnte.