VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 11.04.2007 - A 2 K 169/06 - asyl.net: M10518
https://www.asyl.net/rsdb/M10518
Leitsatz:

Abschiebungsschutz für türkischen Staatsangehörigen wegen Foltergefahr bei Wehrdienstverweigerung.

 

Schlagwörter: Türkei, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, Folter, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Strafverfahren, Reformen, Menschenrechtslage
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3
Auszüge:

Abschiebungsschutz für türkischen Staatsangehörigen wegen Foltergefahr bei Wehrdienstverweigerung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet.

Die Ziffern 1 und 2 des Bescheides des Bundesamtes vom 13.3.2006 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger, der keinen Anspruch Asylanerkennung bzw. auf die Feststellung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG hat, nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Auch wenn er in der Türkei wegen Wehrdienstentziehung gesucht werden wird und mit seiner Einberufung zu rechnen hat, droht ihm insoweit keine politische Verfolgung. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger im Zusammenhang mit dem Wehrdienst in der Türkei mit Maßnahmen zu rechnen hätte, die den Charakter einer politischen Verfolgung tragen könnten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.1.2001, S. 31/32).

Allein der Umstand, dass in der Türkei das Recht zur Wehrdienstverweigerung nicht besteht (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.1.2007. S. 31), stellt auch keine Verfolgungsmaßnahme i.S.d. Art 16a Abs. 1 GG, § 60 Abs. 1 AufenthG dar. Denn es gibt kein international anerkanntes Recht auf Kriegsdienstverweigerung (vgl. NiedersOVG, Urt. v. 26.3.1998, 11 L 3105/96, Juris, m.w.N.). Die Strafverfolgung von Wehrdienstflüchtigen und Wehrdienstverweigern in der Türkei zielt weder darauf ab, noch ist sie darauf angelegt, Wehrdienstpflichtige oder Wehrdienstleistende in asylerheblichen Merkmalen zu treffen, sondern dient nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine bürgerliche Pflicht (vgl. OVG Rhld.-Pf., Urt. v. 26.1.2001, 10 A 11907/00.OVG; NiedersOVG, Urt. v. 26.3.1998, 11 L 3105/96, aaO; SächsOVG, Urt. v. 27.2.1997, SächsVBl. 1997, 267).

Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes vom 13.3.2006 ist indes rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, denn er hat Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 AufenthG, weil er als Kriegsdienstverweigerer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt wäre.

Das Gericht glaubt dem Kläger, dass er aufgrund seiner familiären und persönlichen Erlebnisse den Wehrdienst mit Gewalt und Waffen aus tiefstem Herzen ablehnt.

Es besteht die konkrete Gefahr, dass der Kläger unmittelbar bei seiner Einreise am Flughafen oder zumindest innerhalb weniger Tage danach von den türkischen Sicherheitskräften wegen Wehrdienstentziehung belangt und in Haft genommen werden wird. Zum einen ist es nach allen allgemeinen Auskünften bekannt, dass zurückgeschobene oder sonst aus dem Ausland zurückgeführte türkische Staatsangehörige schon am Flughafen einer - von Fall zu Fall unterschiedlich lang andauernden - Befragung unterzogen werden. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 11.1.2007, S. 47) haben Wehrdienstflüchtige schon bei der Einreise damit zu rechnen, gemustert und einberufen zu werden, ggf. nach Durchführung eines Strafverfahrens. Da der Kläger aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern wird, sieht er sich aufgrund der geltenden Rechtslage in der Türkei einer endlosen Serie von Anklagen und Verurteilungen wegen "Befehlsverweigerung" ausgesetzt, die letztlich nur dazu führen sollen, seinen Widerstand und seinen Willen zu brechen (EGMR, Urt. v. 24.1.2006, Ülke./.Türkei, Az. 39437/98, al. 60/61; ...). Im Übrigen ist die Praxis von Folter und Misshandlung in türkischen Haftanstalten immer noch weit verbreitet, selbst wenn das Auswärtige Amt betont, dass sich die Zahl und Intensität von Menschenrechtsverletzungen in Form von Folter und Misshandlungen seit 1999 kontinuierlich vermindert hätte (Lagebericht v. 11.1.2007, S. 37). Nichtsdestoweniger ist es trotz der Reformbestrebungen in der Türkei auch nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden, was auf eine nicht ausreichend effiziente Strafverfolgung der Foltertäter zurückgeführt wird (Lagebericht v. 11.1.2007, S. 38). Zudem wurden die Hälfte aller Foltervorwürfe im Jahr 2006 in türkischen Haftanstalten aus Militärhaftanstalten berichtet (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 11.1.2007, S.40). Dies bestätigen auch die von der Klagepartei vorgelegten Presseberichte über Folter und mysteriöse Todesfälle von Soldaten beim türkischen Militär im Jahre 2006 (vgl. Anlage A4 zum Schriftsatz vom 1.2.2007, GA S. 153/155). Damit besteht für den Kläger wegen der Wehrdienstverweigerung im Falle seiner Rückkehr in die Türkei die beachtlich wahrscheinliche landesweite Gefahr der Folter in Militärgefängnissen.