VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 17.04.2007 - AN 4 K 07.30203 - asyl.net: M11015
https://www.asyl.net/rsdb/M11015
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Christen, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Sicherheitslage, Nordirak, interne Fluchtalternative, Kurdisch-Islamische Union, KIU, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Zuwanderungsgesetz
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

Beim streitgegenständlichen Asylantrag der Kläger handelt es sich um einen Asylfolgeantrag.

Die Rechtslage hat sich durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar 2005 nachträglich zu Gunsten der Kläger geändert (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Die Kläger hatten auch keine Möglichkeit, diese zu ihren Gunsten eingetretene Änderung der Rechtslage mit Wirkung ab 1. Januar 2005 bereits im Rechtsbehelfsverfahren bezüglich des Widerrufsbescheides des Bundesamtes vom 21. Juli 2004 geltend zu machen (vgl. § 51 Abs. 2 VwVfG). Der Folgeantrag wurde auch innerhalb der Drei-Monats-Frist ab Inkrafttreten der neuen Rechtslage zum 1. Januar 2005 gestellt (vgl. § 51 Abs. 3 VwVfG).

Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar 2005 ist § 51 Abs. 1 AuslG ersetzt durch die entsprechende, aber weitergehende Regelung von § 60 Abs. 1 AufenthG. Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu, konkret bezogen auf die Christen im Irak, mit Urteil vom 18. Juli 2006, Az. 1 C 15.05, DVBl 2006, 1512, entschieden, dass insoweit auch deren Verfolgung im Irak durch fundamentalistische Muslime und andere private Dritte in den Blick zu nehmen und im Rahmen der stets erforderlichen Gesamtschau aller asylrelevanten Bedrohungen zu würdigen ist. Darüber, ob die in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG geregelten Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen, ist laut Bundesverwaltungsgericht a.a.O. von den Tatsachengerichten auf Grund wertender Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden.

Unter Zugrundelegung dieser und anderer einschlägiger Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, insbesondere zu den Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteilen jeweils vom 8. Februar 2007, Az. 23 B 06.31053 u. a., 23 B 06.30866, 23 B 06.30883 und 23 B 06.30884 entschieden, dass nach den zwischenzeitlich im Irak stattgefundenen politischen Veränderungen irakische Staatsangehörige zwar wegen ihrer Asylanträge und ihrer illegalen Ausreise nunmehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr befürchten müssen. Soweit es sich um Angehörige der christlichen Minderheit handelt, drohen ihnen jedoch nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Seiten so genannter nichtstaatlicher Akteure schwere Eingriffe, wie Mord, Verstümmelung oder andere schwere Rechtsverletzungen, die als Gruppenverfolgung zu werten sind.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat dieses Ergebnis nach Auswertung allgemein zugänglicher Medienberichte und der darüber hinaus von ihm im Berufungsverfahren ausdrücklich zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen, auf die auch das erkennende Verwaltungsgericht Bezug nimmt (vgl. den Zusatz zum Ladungsschreiben für den Termin), im Wesentlichen aus Folgendem entnommen:

Die allgemeine Sicherheitslage im Irak ist nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 zwischenzeitlich hochgradig instabil geworden, sie ist geprägt durch tausende terroristische Anschläge und durch fortgesetzte offene Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits. Gerade die Lage der christlichen Bevölkerung hat sich seit der internationalen Militäraktion Ende März 2003 drastisch verschlechtert. Nicht nur prominente religiöse und politische Fürsprecher der Christen werden regelmäßig Opfer gezielter Übergriffe, sondern auch einfache Mitglieder christlicher und anderer religiöser Minderheiten. Diese Übergriffe reichen von Bedrohung, Einschüchterung, Entführung, bewaffnetem Raub, der Zerstörung oder Beschlagnahme von Eigentum über Zwangskonversion und Zwangsverheiratung christlicher Frauen mit muslimischen Männern bis hin zu gewaltsamen Tötungen und Vergewaltigungen. Urheber solcher Übergriffe sind nichtstaatliche, islamische fundamentalistische Gruppen und Einzeltäter, aufständische sonstige Gruppen und kriminelle Banden, im kurdischen Norden sogar auch staatliche Akteure, wie Peshmerga-Einheiten.

Nach den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof berücksichtigten Erkenntnisquellen knüpfen diese Übergriffe, Anschläge und Drohungen gegenüber Christen alternativ oder kumulativ an deren Religionszugehörigkeit, an ihre tatsächliche oder vermeintliche politische Überzeugung, an ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihre Volkszugehörigkeit an. Grundsätzlich spielt es hinsichtlich der Verfolgungsgefahr keine Rolle, welcher konfessionellen Gruppe von Christen eine Person zugehört. Christen werden wegen ihrer Religionszugehörigkeit von fundamentalistischen Gruppen ganz allgemein als "Handlanger der amerikanischen Streitkräfte" angesehen und deswegen verfolgt. Das Eingreifen internationaler Truppen im Jahr 2003 wird von irakischen Extremisten bewusst als "Kreuzzug" propagandistisch ausgenutzt, die ohnehin bestehenden Vorurteile gegenüber Christen werden dadurch verstärkt. Christen werden von Extremisten für die gegenwärtige Situation im Irak verantwortlich gemacht und der Beleidigung des Islam bezichtigt. Vor diesem Hintergrund schweben Christen – gleich welcher Konfession – in der Gefahr, Opfer politisch motivierter Gewaltakte zu werden, und zwar, bezogen auf ihren Anteil an der irakischen Gesamtbevölkerung, überproportional häufig.

Auch im weitgehend kurdisch beherrschten Nordirak steht den Christen – möglicherweise (siehe dazu die nachfolgenden Ausführungen) vorbehaltlich besonderer Ausnahmefälle; ein solcher liegt hier jedoch nicht vor – keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c a.E. AufenthG offen. Die Zuwanderung bzw. Rückkehr in den kurdisch verwalteten Nordirak ist nach den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ausgewerteten Erkenntnisquellen allenfalls solchen Irakern möglich, die aus dem Nordirak stammen und dort ihre Großfamilie bzw. Sippe haben. Zusätzliche Probleme erwachsen irakischen Christen im gesamten Nordirak, auch außerhalb der kurdisch verwalteten Provinzen, aus der starken Präsenz der Kurdisch-Islamischen Union (KIU), die gegenüber Christen eine extreme islamistische Position einnimmt. Trotz offizieller Willkommensworte des Präsidenten "Kurdistans", Masud Barzani, besteht für Christen im Nordirak keine Möglichkeit, eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden.