VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 05.04.2007 - RO 5 K 06.30176 - asyl.net: M11110
https://www.asyl.net/rsdb/M11110
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Gebietsgewalt, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Hindus, Sikhs, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, religiös motivierte Verfolgung, nichtstaatliche Akteure, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Zöliakie, Versorgungslage, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

Der Klägerin steht kein Anspruch gemäß §§ 71 AsylVfG, 51 Abs. 1 VwVfG auf Durchführung eines Folgeverfahrens bezüglich der Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 AufenthG zu.

Das Gericht lässt offen, ob die Klägerin Afghanistan als Vorverfolgte verlassen hat.

Die Klägerin ist nach der Überzeugung des Gerichts zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) bei einer Rückkehr in ihren Heimatstaat vor einer Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen und religiösen Gruppe hinreichend sicher.

Ihr droht durch die aktuelle Interimsregierung in Afghanistan insbesondere keine staatliche Verfolgung. Das Gericht hält nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln bereits das Tatbestandsmerkmal der Staatlichkeit bzw. Quasi-Staatlichkeit im Sinne der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts für nicht gegeben, weil auch derzeit eine effektive Staatsgewalt als Subjekt der Verfolgung in Afghanistan nicht vorliegt.

Die Klägerin ist nach der Überzeugung des Gerichts auch hinsichtlich sonstiger Organisationen bzw. nichtstaatlicher Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst, b und c AufenthG vor Verfolgung sicher.

Ausgehend von diesen Überlegungen ist das Gericht im Wege einer Gesamtschau der maßgeblichen Kriterien der Überzeugung, dass Hindus in Afghanistan keiner gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung - auch bei Anwendung der RL 2004/83/EG des Rates - ausgesetzt sind. Es fehlt im Falle der Hindus in Kabul an der erforderlichen Verfolgungsdichte. Auch ist kein taugliches Verfolgungssubjekt im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG als Verantwortlicher für die geltend gemachten Verfolgungshandlungen festzustellen.

Die bekannten Referenzfälle von Rechtsverletzungen und Benachteiligungen erreichen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Gruppe nicht die Schwelle, ab der eine Verfolgungsdichte anzunehmen wäre. Sie belegen für den Bereich Kabul auch nicht eine allgemeine Untätigkeit des Regimes Karsai bei der Behandlung solcher Übergriffe mit dem Ziel der Vernichtung der Minderheit der Hindus. Die Feier der religiösen Riten ist den Hindus nicht verboten, die Tempelanlagen sind, jedenfalls nach dem Bericht der indischen Botschaft, wiedererrichtet. Die wirtschaftliche Lage ist, jedenfalls für die breiten Massen, im ganzen Lande sehr schlecht, so dass die Minderheit der Hindus hier nicht wesentlich aus dem allgemeinen Rahmen fällt. Soweit die Bevölkerungsmehrheit der Moslems den Angehörigen der hinduistischen Religionsgemeinschaft ablehnend gegenübersteht, erfüllt diese Mehrheit nicht den Rechtsbegriff des "Akteurs" im Sinne der oben genannten Regelungen, also einer abgrenzbaren Gruppe mit einem bestimmten Organisationsgrad, welche in zielgerichteter Weise bestimmte, im weiteren Sinne politische Ziele verfolgt. Die Diskriminierung der Hindus entstammt der Mitte der islamischen Bevölkerung und kann nicht einzelnen Akteuren, auch nicht der Regierung Karsai, zugeordnet werden.

Ihr steht jedoch ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG zu. Der Klägerin würden im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit konkrete erhebliche Gefahren für Leib und Leben drohen.

Allerdings gehört die Familie der Klägerin der sozialen und religiösen Gruppe der Hindus an. Gefahren, denen die Bevölkerung eines Staates oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Ein Abschiebestopp für afghanische Staatsangehörige existiert in Bayern nicht (mehr). Allgemeine Gefahren können Abschiebungshindernisse auch dann nicht begründen, wenn sie den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Im Falle der Klägerin ist jedoch zu beachten, dass sie an der schweren Krankheit Zöliakie leidet. Dieser Umstand lässt sie aus der Bevölkerungsgruppe der jungen Frauen mit hinduistischer Religionszugehörigkeit herausfallen, so dass die Gefahren, die ihr drohen, keine "allgemeinen Gefahren" im Sinne der Regelungen in §§ 60 Abs. 7 Satz 2 und 60 a AufenthG sind.

Bereits oben wurde festgestellt, dass die wenigen in Kabul verbliebenen Hindus überwiegend in Tempeln ohne die Möglichkeit leben, Wohnung und Arbeit auf Dauer zu finden. Die Lebensverhältnisse sind schlechthin unzumutbar, die Tempel die einzigen Stellen, an die sich ein rückkehrender Hindu wenden könne. Ein Ausweichen in andere Landesteile ist für die Familie der Klägerin nicht vorstellbar.

Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die Familie der Klägerin aus fünf Personen besteht, nämlich den Eltern und drei Töchtern. Zwei der Töchter sind minderjährig, darunter die Klägerin. Für die Familie der Klägerin käme im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nur die Wohnsitznahme in der Hauptstadt Kabul in Frage. Da sie nach ihrem glaubhaften Vorbringen keinen familiären oder verwandtschaftlichen Rückhalt in Kabul hat, wäre sie, wie viele ihrer Glaubensgenossen, darauf angewiesen, sich vorerst im Bereich der Tempelanlagen aufzuhalten.

Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, wie der Vater der Klägerin, der früher als Geschäftsmann in Kabul gelebt hat, es unter diesen erschwerten Bedingungen schaffen sollte, seine große Familie zu ernähren und über die Runden zu bringen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Klägerin darauf angewiesen ist, glutenfreie Kost zu sich zu nehmen und sich regelmäßig körperlich untersuchen zu lassen (vgl. das Attest des Krankenhauses ... vom 19.6.2006). Die Versorgung der Klägerin mit für sie verträglicher Nahrung erscheint unter den bekannten Verhältnissen in Kabul in keiner Weise gesichert. Es steht zu befürchten, dass die Klägerin angesichts der bekannten Nahrungsmittelknappheit in Kabul darauf angewiesen wäre, jegliche ihr angebotene Nahrung zu sich zu nehmen und auf diese Weise mit einer baldigen und erheblichen Verschlimmerung ihrer Krankheit rechnen müsste.