VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 10.08.2007 - 1 B 246/07 - asyl.net: M11198
https://www.asyl.net/rsdb/M11198
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Suizidgefahr, fachärztliche Stellungnahme, Glaubwürdigkeit, traumatisierte Flüchtlinge, medizinische Versorgung, Retraumatisierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellte Antrag ist zulässig.

Soweit das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge unter Anwendung der §§ 71 Abs. 1, 3, 4 i.V.m. 36 Abs. 3 AsylVfG bei einem Asylfolgeantrag den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ablehnt, ist die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, wenn das Gericht gemäß § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes hat. Dies ist hier der Fall, soweit es um die Entscheidung nach § 60 Abs. 7 AufenthG für die Antragstellerin geht.

Einer rechtlichen Überprüfung hält die angefochtene Entscheidung des Bundesamtes jedoch nicht stand, soweit für die Antragstellerin auch ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß §§ 51 Abs. 5, 48 oder 49 VwVfG abgelehnt worden ist. Bei der Antragstellerin liegen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung der Voraussetzung dieses Abschiebungsverbotes ist deshalb auf Null reduziert.

Die Antragstellerin leidet nach dem psychologisch-psychotraumatologischen Fachgutachten der Trauma Transform Consult vom 20.11.2005 an einer posttraumatischen Belastungsstörung und an einer schweren depressiven Episode mit akuter Suizidalität und psychotischer Symptomatik. Das Gericht hat keine Bedenken gegen die Richtigkeit der getroffenen Diagnose. Entgegen der Behauptung der Antragsgegnerin unterstellen die Gutachter den Vortrag der Antragstellerin zu ihren traumaauslösenden Erlebnissen nicht kritiklos als wahr. Sie sind vielmehr aufgrund des ausführlichen Gesprächs mit der Antragstellerin zu der Einschätzung gelangt, dass "deren aktuell vorliegende psychische Beschwerden kausal auf die glaubhaft geschilderten belastenden Ereignisse in den Jahren 1991 bis 2003 sowie auf die bis heute anhaltende Bedrohung durch ihren Ehemann und die gleichzeitige Androhung ihrer Abschiebung zurückzuführen" seien (Seite 26 des Gutachtens). Dabei waren den Gutachtern die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin und damit auch das im ersten Asylverfahren ergangene ablehnende Urteil des Verwaltungsgericht Arnsberg vom 23.02.2005 durchaus bekannt. Der Umstand, dass die Antragstellerin bei vorherigen Befragungen nicht in der bei der Begutachtung gezeigten Ausführlichkeit von ihren traumaauslösenden Erlebnissen berichtet hat, liegt nach Auffassung der Gutachter zum einen an deren ausgeprägten Schamgefühlen, insbesondere gegenüber Männern. Zum anderen wirke schon allein das Erzählen der traumatisierenden Erlebnisse psychisch sehr belastend. Die Antragstellerin zeige hier ein durchaus übliches und psychisch sinnvolles Vermeidungs- und Schutzverhalten, da sie die Ereignisse noch nicht ausreichend verarbeitet habe und somit ständig mit der unkontrollierbaren Überflutung durch Erinnerungsbilder und den dazugehörigen Gefühlen des Entsetzens, der Hilflosigkeit und Ohnmacht rechnen müsse. Wie belastend das Erzählen der schädigenden Ereignisse tatsächlich sei, werde dadurch deutlich, dass die Antragstellerin in der Begutachtungssituation nach den Berichten über bestimmte Passagen unter Übelkeit und Atemnot leide (Seite 27 des Gutachtens). Dieser Einschätzung schließt sich das Gericht an.

Das Gericht teilt auch nicht die Meinung der Antragsgegnerin, die Gutachter hätten ihr Urteil auf einer unzureichenden Grundlage gefällt; eine einmalige Begutachtung reiche nicht aus, um die getroffene Diagnose zu stellen. Laut Gutachten hat die Untersuchung der Antragstellerin von 11.00 - 18.00 Uhr (also sieben Stunden) gedauert und wurde zudem von zwei Diplompsychologen durchgeführt, die auf die Erstellung von psychologisch-psychotraumatologischen Fachgutachten spezialisiert sind. Vor diesem Hintergrund hat das Gericht keine Zweifel daran, dass die Diagnose der Gutachter fundiert ist. Das Gericht sieht auch nicht wie die Antragsgegnerin Anhaltspunkte dafür, dass die Gutachter befangen sein könnten. Dies folgt sicher nicht allein aus dem Umstand, dass der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin schon öfter Gutachten bei der Trauma Transform Consult in Auftrag gegeben hat. Darüber hinaus besteht zwischen der Antragstellerin und der Trauma Transform Consult auch kein therapeutisches Verhältnis noch wird ein solches angestrebt, was die Gutachter hätte befangen machen können.

Nach alledem spricht Überwiegendes dafür, dass die Antragstellerin im Falle einer Abschiebung in die Türkei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur durch die Rückkehr in das Land einer Retraumatisierung ausgesetzt wäre. Die allein durch Land und Sprache entstehende unausweichliche Konfrontation mit dem erfahrenen Leid und der Trauer bedeutet für die Antragstellerin eine in höchstem Maße lebensbedrohliche Krisensituation. Diese würde die vorhandene Suizidgefahr bei ihr erheblich verstärken, ohne dass dies durch eine ärztliche/psychiatrische Behandlung oder den Beistand ihrer Familie verhindert werden könnte. Damit liegt eine konkrete erhebliche und extreme Gefahr für Leib und Leben der Antragstellerin vor.

Daneben ist das Gericht - selbständig tragend - davon überzeugt, dass sich die schwere psychische Erkrankung der Antragstellerin in ihrem Heimatland auch allein deshalb in erheblicher Weise verschlimmern würde, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend oder für sie nicht erreichbar sind. Die Antragstellerin ist neben der medikamentösen Behandlung (siehe hierzu Stellungnahme des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Göttingen vom 21.06.2007) dringend auf eine psychotherpeutische und psychiatrische - möglichst stationäre und traumaspezifische - Behandlung angewiesen. Nach den vorliegenden Erkenntnissen gibt es in der Türkei psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten nur in äußerst begrenztem Umfang. Dies ergibt sich bereits aus dem aktuellen Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amtes vom 11.01.2007, wonach die medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei und die Behandlung auch von posttraumatischen Belastungsstörungen zwar möglich ist. Allerdings wird die tatsächliche Erreichbarkeit einer therapeutischen Weiterbehandlung und adäquaten Betreuung als vom Einzelfall abhängig bezeichnet und damit generell in Frage gestellt. Von einer gesicherten medizinischen Versorgung kann danach keine Rede sein.