VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.09.2007 - 11 S 442/07 - asyl.net: M11567
https://www.asyl.net/rsdb/M11567
Leitsatz:

§ 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG regelt in seiner dritten Variante in der bis zum 28.08.2007 geltenden Fassung nur die Verletzung einer Auskunftspflicht als besondere Ausprägung der ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten und setzt voraus, dass der Ausländer zuvor auf die möglichen Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Auskunftspflicht hingewiesen worden ist.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Ermessensausweisung, Falschangaben, Hinweispflicht, Mitwirkungspflichten, Wechsel der Rechtsgrundlage
Normen: AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 1; AufenthG § 49 Abs. 1; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2
Auszüge:

§ 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG regelt in seiner dritten Variante in der bis zum 28.08.2007 geltenden Fassung nur die Verletzung einer Auskunftspflicht als besondere Ausprägung der ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten und setzt voraus, dass der Ausländer zuvor auf die möglichen Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Auskunftspflicht hingewiesen worden ist.

(Amtlicher Leitsatz)

 

1. Der vom Regierungspräsidium Tübingen als Rechtsgrundlage der Ausweisung herangezogene § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG trägt die Ausweisungsverfügung nicht. Nach dieser Vorschrift kann ein Ausländer nach § 55 Abs. 1 AufenthG insbesondere ausgewiesen werden, wenn er in Verfahren nach diesem Gesetz oder zur Erlangung eines einheitlichen Sichtvermerks nach Maßgabe des Schengener Durchführungsübereinkommens falsche oder unvollständige Angaben zum Zweck der Erlangung eines Aufenthaltstitels gemacht oder trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung dieses Gesetzes zuständigen Behörden im In- und Ausland mitgewirkt hat, wobei die Ausweisung auf dieser Grundlage nur zulässig ist, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf die Rechtsfolgen falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde. In Betracht kommt im vorliegenden Fall allein die vom Regierungspräsidium Tübingen herangezogene dritte Variante der Vorschrift, nach der ein Ausländer ausgewiesen werden kann, wenn er trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung des Aufenthaltsgesetzes zuständigen Behörden mitgewirkt hat. Die beiden ersten Varianten beziehen sich auf Rechtsverstöße eines Ausländers zur Erlangung eines Aufenthaltstitels. Diese Situation liegt nicht vor.

Der Senat kann es ebenso wie das Verwaltungsgericht offen lassen, ob der Kläger tatsächlich einen Verstoß gegen eine Rechtspflicht zur Mitwirkung begangen hat, der eine Ausweisung rechtfertigen würde. Denn es fehlt jedenfalls an dem erforderlichen Hinweis auf die Rechtsfolgen nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 Halbsatz 2 AufenthG. Nach dieser Regelung ist "die Ausweisung auf dieser Grundlage nur zulässig, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf die Rechtsfolgen falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde". Die Hinweispflicht gilt entgegen der Auffassung des Beklagten nicht nur für die ersten beiden Varianten des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG sondern auch für die dritte Variante.

§ 55 Abs. 2 Nr. 1 Halbsatz 2 AufenthG spricht allerdings auch von einem Hinweis auf die Rechtsfolgen "falscher oder unvollständiger Angaben" vor der "Befragung". In der Literatur wird daher die Auffassung vertreten, wegen der Bezugnahme auf falsche oder unvollständige Angaben bedürfe es im Falle der dritten Variante (Verletzung der Mitwirkungspflicht) keiner Belehrung (Armbruster in HTK-AuslR, § 55 AufenthG/zu Abs. 2 Nr. 1 05/2007 Nr. 4 m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rdnr. 22; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 55 AufenthG Rdnr. 15). Der Senat folgt dieser Ansicht nicht. Nach Auffassung des Senats beschränkt § 55 Abs. 2 Nr. 1 Halbsatz 2 AufenthG vielmehr die Ausweisungsmöglichkeit nach der dritten Variante der Vorschrift auf solche Fälle, in denen der Ausländer seine Mitwirkungspflicht dadurch verletzt, dass er bei einer Befragung falsche oder unvollständige Angaben macht. Die Befragung kann sowohl mündlich als auch schriftlich, in Form eines Formulars oder auch formlos erfolgen. Der zweite Halbsatz des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG konkretisiert somit den weiten Begriff der Mitwirkungspflicht in der dritten Variante des ersten Halbsatzes dieser Vorschrift.

Das Erfordernis einer Befragung macht deutlich, dass § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nur einen bestimmten Teilbereich der Mitwirkungspflichten eines Ausländers erfasst, nämlich den der Auskunftspflichten. Denn eine Befragung erfolgt zu dem Zweck Antworten - oder mit anderen Worten "Angaben" - zu erhalten. Dem Auskunftsverlangen der Behörde steht die Auskunftspflicht des Ausländers gegenüber. Das Aufenthaltsgesetz normiert insbesondere in § 49 Abs. 1 AufenthG eine solche spezielle Mitwirkungspflicht. Die Vorschrift fordert von einem Ausländer, gegenüber der Ausländerbehörde auf Verlangen Angaben zu seinem Alter, seiner Identität und seiner Staatsangehörigkeit zu machen. Die Pflicht besteht nicht nur in Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels sondern auch in anderen ausländerrechtlichen Verfahren, wie z.B. bei der Passbeschaffung, denn § 49 Abs. 1 AufenthG beschränkt die Auskunftspflicht des Ausländers nicht auf bestimmte Verfahren. Die Angaben des Ausländers müssen richtig und vollständig sein. Sind sie es nicht, kann der Ausländer nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG wegen Verletzung dieser Mitwirkungspflicht ausgewiesen werden, wenn er vor dem Auskunftsverlangen auf diese mögliche Rechtsfolge hingewiesen wurde.

2. Die angefochtene Ausweisungsverfügung erweist sich auch unter den Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG nicht als rechtmäßig. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG kann ein Ausländer unter anderem ausgewiesen werden, wenn er einen Verstoß gegen eine behördliche Entscheidung begangen hat. In Betracht käme hier allein ein Verstoß gegen die dem Kläger im Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 21.06.2004 auferlegte Pflicht, einen Pass vorzulegen bzw. einen solchen bei einer persönlichen Vorsprache bei der chinesischen Botschaft zu beantragen. Einen Verstoß gegen diese Verpflichtungen hat das Regierungspräsidium dem Kläger in der Ausweisungsverfügung jedoch nicht vorgehalten. Es hat ausschließlich darauf abgestellt, dass der Kläger in den ihm vorgelegten Fragebögen falsche Angaben gemacht habe und sich keine Dokumente aus seinem Heimatland habe schicken lassen. Diese Pflichten waren dem Kläger in dem Bescheid vom 21.06.2004 jedoch nicht auferlegt worden. Die vom Regierungspräsidium in der Ausweisungsverfügung angestellten Erwägungen können somit nicht zugleich für eine auf § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gestützte Ausweisung herangezogen werden, so dass ein Wechsel des Ausweisungsgrundes im Sinne der oben genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht möglich ist.