VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 17.07.2007 - W 5 K 07.30064 - asyl.net: M11731
https://www.asyl.net/rsdb/M11731
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Funktionäre, Terrorismusvorbehalt, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, faires Verfahren, fair trial, Militärrichter, Strafverfahren, Strafurteil, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Unterzeichnerstaat, Auslieferung, Auslieferungshindernis, Folter
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 6 Abs. 1; IRG § 73
Auszüge:

Liegt ein Auslieferungshindernis nach § 37 S. 1 IRG (hier: türkisches Strafurteil unter Beteiligung eines Mlitärrichters) vor, spricht die Einheitlichkeit der Rechtsordnung dafür, dass auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.

(Leitsätze der Redaktion)

 

Beim Kläger besteht aber ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf die Türkei. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II, S. 685, Europäische Konvention der Menschenrechte, – EMRK –) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

§ 60 Abs. 5 AufenthG wird durch § 60 Abs. 6 AufenthG nicht ausgeschlossen (vgl. z.B. VG Aachen, U.v. 11.10.2006, 8 K 1146/02.A, in juris), wie schon der einschränkende Satz in Abs. 6 besagt "... soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt ...".

Das OLG Bamberg hat (nach gegenteiligen vorläufigen Beschlüssen) mit Beschluss vom 12. März 2007 die Weiterlieferung des Klägers aus der Schweiz in die Türkei zur Strafvollstreckung für unzulässig erklärt. Grund hierfür war, dass das OLG nach eigenen Recherchen (über das Bundesamt für Justiz) und unter Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesgerichtshofs und des EGMR zur Auffassung gelangte, dass die – vorliegend erwiesene – Beteiligung eines Militärrichters an der Verurteilung des Klägers im Jahr 1995 (2. Kammer des Staatl. Sicherheitsgerichts Malatya, U.v. 21.12.1995, vgl. Bl. 169 d. Bekl.akte) rechtlich bedenklich ist, Zweifel an einem fairen Verfahren und an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Strafgerichts wecken kann, und dass an dieser Einschätzung auch die dem Strafurteil folgenden Entscheidungen des Kassationsgerichtshofs (vom 07.11.1996, Bl. 196 d. Bekl.akte) und des Schwurgerichts (2. Kammer d. Staatl. Sicherheitsgerichts Malatya v. 03.01.2006, Bl. 159 d. Bekl.akte) nichts geändert haben.

Bereits das Gebot der Einheitlichkeit der Rechtsordnung spricht dafür, ein Auslieferungshindernis nach § 73 Satz 1 IRG nicht anders zu beurteilen als ein Abschiebungsverbot. Denn die Auslieferung ist – im Grunde – nicht deswegen unzulässig, weil gegen den Kläger ein (gemessen an der EMRK) nicht rechtsstaatliches Strafverfahren geführt wurde, sondern eigentlich wegen der Folgen dieses Verfahrens, also der Verurteilung und der – jetzt noch zu verbüßenden – Reststrafe (wäre der Kläger freigesprochen worden, so wäre die Beteiligung eines Militärrichters unerheblich). Eine solche, auf einem EMRK-widrigen Verfahren beruhende Freiheitsstrafe kann – unabhängig von den Vollzugsbedingungen – generell wohl kaum weniger menschenrechtswidrig angesehen werden als das zugrunde liegende Strafverfahren.

Aber auch unabhängig vom Gesichtspunkt der einheitlichen Rechtsordnung ergibt sich vorliegend aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass der Kläger (nur) nicht in die Türkei abgeschoben werden darf, also ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf diesen Staat besteht.

1.2.1. Dem erkennenden Richter stellt sich folgender Sachverhalt: Der Kläger hat kein rechtsstaatswidriges Verfahren zu erwarten, sondern bereits "hinter sich", denn er wurde zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, hat gegen die Verurteilung erfolglos den Kassationsgerichtshof angerufen und bereits einen Teil der Freiheitsstrafe verbüßt, und auch ein "zusätzliches Urteil" des Sicherheitsgerichts Malatya vom 3. Januar 2006 änderte nichts an der vorherigen Verurteilung. Insofern hat sich das Risiko eines unfairen Prozesses (auf das der EGMR im U.v. 07.07.1989, Soering/Großbritannien, A/161, EUGRZ 1989, S. 314 = NJW 1990, S. 2183, abstellte) schon verwirklicht.

1.2.2. Der Einwand der Beklagten, ein schwerer Verstoß gegen Art. 6 EMRK bestehe hier deshalb nicht, weil der nur formale Fehler (Mitwirkung eines Militärrichters) nicht ausreiche und Anhaltspunkte für ein Willkürurteil nicht bestünden (wie im Bescheid dargelegt), geht fehl: ...

In einem früheren Urteil vom 8. Juli 1999 (23536/94 und 24408/94, in juris = NJW 2001, S. 1995) hatte die Große Kammer des EGMR über die Klage zweier türkischer Zivilisten (ein Journalist und ein Herausgeber) gegen die Türkei zu befinden. Den Ausführungen des EGMR lässt sich entnehmen, dass schon die bloße Beteiligung eines Militärrichters (unabhängig davon, wie sich seine Mitwirkung auf das Verfahren auswirkte) für den Verstoß gegen Art. 6 EMRK als ausreichend angesehen wird. Der EGMR hat in dem Urteil außerdem auch die Rechtfertigungsgründe der türkischen Regierung (vgl. Abschnitte 74 bis 76 d. Urteils) kurzerhand als nicht maßgeblich abgetan, darunter auch die Versicherung der Türkei, die Fairness des konkreten Verfahrens sei durch die Teilnahme eines Militärrichters am Spruchkörper nicht beeinträchtigt worden, denn weder die vorgesetzten Behörden des Militärrichters noch die ihn ernennenden staatlichen Behörden hätten irgendein Interesse am Verfahren und außerdem seien die Beschwerdeführer im ersten Durchgang ja freigesprochen worden.

Der Standpunkt des EGMR, schon die bloße Beteiligung eines Militärrichters in einem Strafverfahren gegen einen Zivilisten als Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK zu werten, ist richtig. Ob und wie sich die Beteiligung eines Spruchkörper-Mitglieds, das eigentlich nicht hätte mitwirken dürfen, auf den Ablauf des Verfahrens und letztlich auf dessen Ausgang, namentlich auf Schuldspruch und Strafmaß, ausgewirkt hat, entzieht sich typischerweise gerade einer Überprüfung – schon wegen des Beratungsgeheimnisses. Die potentiellen Einflussmöglichkeiten eines "falschen" Richters sind vielfältig. Ausgeschlossen werden kann nicht einmal, dass schon die schlichte Tatsache der Mitwirkung eines Militärrichters, das Gewicht der "hinter ihm stehenden" Vorgesetzten und die dadurch ausgedrückte besondere Bedeutung des Falles die am Verfahren Mitwirkenden beeinflusst, nämlich Zeugen bei ihren Aussagen, ermittelnde Bedienstete bei Untersuchungen und letztlich auch die übrigen Richter in ihrer Entscheidungsfindung. Aus gutem Grund ist z. B. in Deutschland auch die vorschriftswidrige Mitwirkung eines Richters oder Schöffen ein absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nrn. 1 bis 3 StPO.

Vorliegend ist also nach obigen Ausführungen und der Rechtsprechung des EGMR schon in der Beteiligung eines Militärrichters ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK und auch eine "offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses" im Sinn des Urteils vom 7. Juli 1989 (S., a.a.O.) zu sehen. Der Einwand der Beklagten, die Urteile gegen den Kläger böten keine Anhaltspunkte für etwaige Folterungen oder fehlerhaft gewonnene Erkenntnisse, insbesondere Geständnisse und Zeugenaussagen, ist also unerheblich.

1.2.3. Lediglich ergänzend sei daher angemerkt: Dass die Urteile keine Hinweise auf Verfahrensverstöße enthalten, besagt wenig. Dem erkennenden Gericht ist – aus mehrjähriger Erfahrung mit Asylstreitverfahren aus der Türkei – bekannt, dass in türkischen Strafurteilen (zumal noch Mitte der Neunziger Jahre) Hinweise auf Foltervorwürfe tunlichst übergangen oder zumindest kaschiert wurden, selbst dann, wenn sie z. B. von Anwälten ausdrücklich vorgebracht und sogar belegt wurden.

1.2.4. Die Verweigerung eines fairen Verfahrens ist jedenfalls dann, wenn – wie vorliegend – der Verfahrensverstoß erstens sich in seinen Auswirkungen nicht messen und nachprüfen lässt und zweitens zu einer langjährigen oder lebenslangen Freiheitsstrafe geführt hat, auch eine "schwere Misshandlung" im Sinn des Bundesverwaltungsgerichts-Urteils vom 7. Dezember 2004 (1 C 14/04, in juris). Dieser Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK "schlägt durch" auf die gegen den Kläger verhängte Strafe, auch diese kann nicht anders als konventionswidrig und als schwere Misshandlung im genannten Sinn angesehen werden.

1.2.5. Es ist vorliegend auch davon auszugehen, dass der Verstoß irreparabel ist: Gegen den Kläger erging ein Strafurteil, das vom Kassationsgerichtshof im Jahr 1996 und selbst im "zusätzlichen Urteil" vom 3. Januar 2006 (das jedoch offenbar nur die korrekte Anwendung verschiedener Paragraphen beim Strafmaß zum Gegenstand hatte, vgl. Bl. 159 d. Bekl.akte) bestätigt wurde. Ob der Kläger im Fall seiner Abschiebung der (mit dem türkischen Auslieferungsersuchen ja gerade bezweckten und deshalb konkret drohenden) unmittelbaren weiteren Strafvollstreckung jetzt noch entgehen kann und z. B. um vorläufigen Rechtsschutz beim EGMR nachsuchen könnte (wie das Bundesverwaltungsgericht im U.v. 07.12.2004, a.a.O., unter Abschnitt 25 meinte), ist vorliegend schon wegen der lange zurück liegenden Zeit und der einzuhaltenden Fristen bei Rechtsbehelfen zum EGMR fraglich (vgl. Art. 35 Abs. 1 EMRK: Sechs-Monats-Frist für die Individualbeschwerde nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges).

Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht im genannten Urteil (v. 07.12.2004, a.a.O., Abschnitt 26) sogar für den Fall, dass der dortige Kläger nicht innerhalb eines zumutbaren Zeitraums effektiven Rechtsschutz zumindest durch den EGMR erlangen könne, keine Gefahr einer "schweren und irreparablen Beeinträchtigung" angenommen. Dies liegt aber nur daran, dass – anders als vorliegend – der dort Betroffene ("K.") auch und bereits wegen anderer Taten eine mehrjährige Freiheitsstrafe in der Türkei zu erwarten hatte, gegen deren strafrechtliche Ahndung keinerlei Foltervorwürfe oder Bedenken im Hinblick auf ein faires Verfahren vorzubringen waren (Planung des "K." im Herbst 1998 zur Bombardierung des Atatürk-Mausoleums und der gewaltsamen Besetzung der Fatih-Moschee).