OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22.11.2007 - 1 A 11605/06.OVG - asyl.net: M12126
https://www.asyl.net/rsdb/M12126
Leitsatz:

Gefahren infolge einer Erkrankung aus dem psychiatrischen Formenkreis stellen keine allgemeinen Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG dar; Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nach Serbien für bosnische Volkszugehörige wegen Suizidgefahr nach Vergewaltigung durch serbische Sicherheitskräfte.

 

Schlagwörter: Serbien, Bosnier, Frauen, Flüchtlingsfrauen, Vergewaltigung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, allgemeine Gefahr, posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, Sachverständigengutachten, Beweiswürdigung, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Gefahren infolge einer Erkrankung aus dem psychiatrischen Formenkreis stellen keine allgemeinen Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG dar; Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nach Serbien für bosnische Volkszugehörige wegen Suizidgefahr nach Vergewaltigung durch serbische Sicherheitskräfte.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Verwaltungsgericht hätte der Klage – soweit sie noch anhängig war - hinsichtlich der Klägerin zu 1) stattgeben müssen, denn in ihrer Person liegt ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.

Bei Erkrankungen aus dem psychiatrischen Formenkreis kann eine zielstaatsbezogene Verschlimmerung nicht als allgemeine Gefahr qualifiziert werden, die der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG unterliegt und nur im Falle einer extremen Zuspitzung zu einer Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das Bundesamt führt, sondern sie ist nach dem Maßstab der "erheblichen konkreten Gefahr" in unmittelbarer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu beurteilen. Dies gilt insbesondere auch für den Fall der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Denn auch wenn nach den nicht mit der Berufung angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts Kriegserlebnisse bei einem erheblichen Teil der Betroffenen eine posttraumatische Belastungsstörung auslösen (vgl. insoweit die Nachweise auf S. 9, 10 des Umdrucks, Bl. 104, 104 Rs. der Gerichtsakten), so bestehen angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung (vgl. etwa die Darstellung in Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 261. Auflage 2007, S. 223) für den Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Rückkehr in den Herkunftsstaat eines Traumatisierten in jedem Falle Gefahren erwarten lässt, die die Notwendigkeit von Abschiebungsschutz begründen. Es liegt vielmehr in der Natur einer psychischen Erkrankung, die auf von vielen Menschen in gleicher oder ähnlicher Weise erlebten Ereignissen beruht, dass sie nicht allein durch diese Ereignisse entsteht, sondern vielmehr in der Individualität des Erlebenden ihre Ursache hat (vgl. auch OVG NW, Urteil vom 16. Februar 2004 – 15 A 548/04.A –, juris; Hessischer VGH, Urteil vom 28. November 2005 – 7 UZ 153/05.A).

Ausgehend von diesen Voraussetzungen liegt in der Person der Klägerin zu 1) ein zielstaatsbezogenes Abschiebeverbot i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1) nach 1999 eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) durchlebt hat, aus der zwischenzeitlich die chronifizierte Erkrankung nach Art der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung i. S. von ICD 10: F 62.0 hervorgegangen ist, und die im Falle einer Rückkehr nach Serbien eine "gefährliche Krise" mit lebensbedrohendem Charakter für sie befürchten lässt (vgl. S. 12 des Gutachtens von Dr. med. ... vom 10. Juli 2006, Bl. 161 der Gerichtsakten).

Der Gutachter ist zu diesem Ergebnis aufgrund der Eigenanamnese der Klägerin zu 1), der Fremdanamnese der Tochter der Kläger zu 1) und der von ihm durchgeführten Exploration gelangt. Er hat zunächst das von der Klägerin zu 1) geschilderte auslösende Erlebnis – die Vergewaltigung durch einen serbischen Soldaten – zugrunde gelegt, das die Klägerin zu 1) während ihres gesamten Asylverfahrens im wesentlichen gleichbleibend geschildert hat und das im Übrigen auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen wurde. Er hat des Weiteren im Verlaufe seiner Untersuchung festgestellt, dass bei der Klägerin zu 1) mit zunehmender Dauer der Exploration und Annäherung an das Traumatisierungsthema eine erkennbare Verspannung der Betroffenen eingetreten ist.

Ausgehend von diesen Befunden kommt der Gutachter zu dem Ergebnis, dass die Klägerin zu 1) infolge der erlittenen Vergewaltigung zunächst an einer PTBS gelitten hat. Der Gutachter führt weiter aus, dass sich im Verlauf eine chronifizierte Störung entwickeln kann, die sich ganz erheblich vom Bild der akuten PTBS unterscheidet und durch ständiges Misstrauen, völligen Rückzug, Gefühl der Leere, Hoffungslosigkeit und zugleich der Bedrohung geprägt ist (Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, ICD 10 : F 62.0). Für den Fall einer Rückkehr nach Serbien muss eine "gefährliche Krise" mit lebensbedrohendem Charakter für die Klägerin zu 1) befürchtet werden, da sie zwar das Wort Suizid nicht selbst ausspricht, aber es in verschiedenen Formen umschreibt. Eine besondere Besorgnis aus psychiatrischer Sicht sieht der Gutachter in der Ausweitung der Bedrohungsängste der Klägerin zu 1) auf ihre Töchter, für die sie das gleiche Schicksal erwartet, wenn sie nach Serbien zurückkehren müsste (vgl. S. 12 des Gutachtens, a.a.O.). Hierzu führt er ergänzend aus, dass bei depressiven Frauen mit Kindern die Gefahr eines erweiterten Suizides eine prinzipielle Möglichkeit ist.

Die plausiblen und nachvollziehbaren Feststellungen des Gutachters zum Bestehen einer PTBS und zur Frage, ob diese einen solchen Schweregrad aufweist, das bei einer erzwungenen Rückkehr nach Serbien und Montenegro ungeachtet etwaiger medizinisch-psychologischer Behandlungsmöglichkeiten mit großer Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu erwarten ist, die zu einer lebensgefährdenden Lage infolge nicht kontrollierbarer Eigengefährdung führen würde, vermochte die Beklagte nicht zu erschüttern. Insbesondere hält der Senat vor dem Hintergrund der Einwendungen des Beklagten im Schriftsatz vom 18. Oktober 2007 (vgl. Bl. 185 f. der Gerichtsakten) in Anbetracht der Ausführungen des Gutachters die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nicht für erforderlich.

Insoweit gilt es nämlich zu berücksichtigen, dass dann, wenn einem Tatsachengericht zu einer durch Beweisaufnahme zu klärenden Tatfrage bereits ein Sachverständigengutachten vorliegt, die Einholung eines weiteren Gutachtens im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Februar 1985, NJW 1986, 2268; Beschlüsse vom 7. März 2003 – 6 B 16.03 –, juris, und vom 4. Oktober 2001 – 6 B 39.01 –, juris). Reicht ein bereits eingeholtes Gutachten aus, um das Gericht in die Lage zu versetzen, die entscheidungserheblichen Fragen sachkundig beurteilen zu können, und ist es von der Richtigkeit der dem Gutachten zugrunde gelegten Tatsachen und der gezogenen Schlussfolgerungen aufgrund einer selbstverantwortlichen Überprüfung und Nachvollziehung überzeugt, ist die Einholung eines weiteren Gutachtens oder Obergutachtens weder notwendig noch veranlasst (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Februar 1985, a.a.O. S. 2268; Beschluss vom 14. April 1970 – 4 B 201.69 –, Buchholz 310 § 86 II VwGO Nr. 12). Dies bedeutet, dass derjenige Verfahrensbeteiligte, der die Tatsachengrundlage bzw. die daraus gezogenen Schlussfolgerungen des Sachverständigen in Zweifel zieht, es nicht lediglich bei pauschalen Angriffen gegen das Gutachten bewenden lassen darf, sondern vielmehr im Einzelnen substantiiert und nachvollziehbar die nach seiner Auffassung bestehende Fehlerhaftigkeit des Gutachtens aufzeigen muss. Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Beklagten nicht.

Soweit die Beklagte gegen das Gutachten einwendet, die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung sei nicht nachvollziehbar, und hierzu ausführt, der Gutachter habe zwar die Symptomatik einer PTBS beschrieben, dann aber nicht dargelegt, woher er die Erkenntnis haben wolle, "die Betroffene habe ab 1999 eine Phase mit dieser Symptomatik erlebt" (vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 18. Oktober 2007, Bl. 186 der Gerichtsakten), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Der Gutachter hat nämlich durchaus dargelegt, auf welcher Grundlage er zu der Überzeugung gelangt ist, die Klägerin zu 1) habe an einer PTBS gelitten, die sich zu einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung entwickelt habe. Er hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass die Klägerin zu 1) nach der erlittenen Vergewaltigung dieses Thema ausgeblendet und verdrängt habe sowie dass sie mit niemandem habe darüber sprechen können. Dies passt zu dem bei der Exploration aufgezeigten Verhalten, dem sich nur indirekten Annähern an das Traumatisierungsthema, dem Vermeiden von Blickkontakten. Dieses Verhalten und dazu die festgestellte generelle Anhedonie und Antriebsarmut, die auch von der Tochter der Klägerin zu 1) in deren Fremdanamnese angegeben wird (vgl. 7, 8 des Gutachtens, Bl. 156, 157 der Gerichtsakten), lassen durchaus auf die als typisches Syndrom eines PTBS auftretende emotionale Taubheit schließen. Hinzu kommt, dass der Gutachter – ausgehend von der aktuell diagnostizierten andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung – auf die PTBS rückschließen musste, weil deren Symptome in einem Zeitraum von bis zu sechs Monaten nach dem traumatisierenden Ereignis – welches vorliegend im Jahr 1999 stattgefunden hatte – auftreten. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht dessen, dass der Gutachter als Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie an der ... Fachklinik ... über die auch von der Beklagten nicht in Abrede gestellten Fachkunde verfügt, hält der Senat die Ausführungen im Gutachten für überzeugend.

Auch der Einwände hinsichtlich der vom Gutachter festgestellten Suizidalität greifen nicht durch.

Soweit die Beklagte ausführt, die Prognose einer ernstlichen Suizidgefahr finde mangels nachvollziehbarer Diagnose keine hinreichende Stütze (vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 18. Oktober 2007, a.a.O.), ist dem nach dem vorgesagten entgegen zu halten, dass der Gutachter nachvollziehbar und in sich schlüssig eine chronifizierte Erkrankung in der Art einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung diagnostiziert und darauf aufbauend unter Nennung der Anzeichen eine ernsthafte Suizidgefahr bei der Klägerin zu 1) angenommen hat.

Auch der Verweis darauf, die prognostizierte Suizidgefahr werde nicht durch die spezifischen Verhältnisse im Herkunftsstaat bedingt, sei also nicht zielstaatsbezogen (vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 18. Oktober 2007, a.a.O.), greift nicht durch. Insoweit ist der Beklagten zwar zuzustimmen, dass eine (ernstliche) Suizidabsicht aus Angst vor einer drohenden Abschiebung ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis darstellen würde, über das nicht die Beklagte, sondern die Ausländerbehörde zu entscheiden hätte. Allerdings übersieht die Beklagte, in Bezug auf die vom Gutachter angenommene Suizidabsicht, dass vorliegend nicht die – sicherlich auch bestehende – Angst vor einer Abschiebung als solcher im Vordergrund steht, sondern die – wie es der Gutachter ausgeführt hat – unkorrigierbare Angst, dass der Klägerin zu 1) und ihren Töchtern in Serbien eine Wiederholung des Schicksals zwangsläufig droht, wenn sie dorthin zurückkehren würden. Maßgeblicher Auslöser für die prognostizierte Suizidabsicht ist – wie der Gutachter an verschiedenen Stellen ausführt – die Angst der Klägerin zu 1) vor einer erneuten Vergewaltigung, die sie zwangsläufig kommen sieht. Damit steht eindeutig ein in Serbien angelegtes Moment als für die Suizidabsicht der Klägerin zu 1) auslösender Umstand im Vordergrund.