VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 14.11.2007 - 23 B 07.30495 - asyl.net: M12506
https://www.asyl.net/rsdb/M12506
Leitsatz:

Inländische Fluchtalternative für Kurden aus dem Nordirak, deren Familie oder Sippe dort ansässig ist.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Sunniten, Kurden, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, Nordirak
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Inländische Fluchtalternative für Kurden aus dem Nordirak, deren Familie oder Sippe dort ansässig ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 24. März 2006 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in deren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Klägerin hat nach Überzeugung des Senats zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) und in absehbarer Zukunft bezogen auf den Staat Irak auch aus eigenem Recht keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz, nunmehr nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

Allerdings droht zurückkehrenden Irakern sunnitischen Glaubens nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Religion, gegen die Schutz zu gewähren der irakische Staat oder nichtstaatliche Herrschaftsorganisationen nicht in der Lage sind.

Der Klägerin ist jedenfalls im Nordirak eine innerstaatliche Fluchtalternative eröffnet (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a.E. AufenthG). Im Fall einer Rückkehr in ihr Heimatland ist ihr zuzumuten, sich dort niederzulassen.

Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Asyl- und Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (BVerwG vom 18.7.2006 a.a.O.).

Der Senat hat zu Zeiten der Schreckensherrschaft Saddam Husseins in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass für irakische Staatsangehörige aus dem Zentralirak die "autonomen" kurdischen Provinzen nur dann eine Fluchtalternative darstellen, wenn sie dort zum einen mangels politischer Exponiertheit vor dem Zugriff des zentralirakischen Staates ausreichend sicher sind und zum anderen aufgrund familiärer oder klientelistischer Verbindungen ihr wirtschaftliches Existenzminimum gesichert ist (vgl. statt vieler BayVGH vom 6.6.2002, Az. 23 B 02.30536 und vom 14.12.2000, Az. 23 B 00.30256).

Die Verhältnisse haben sich insoweit, was Flüchtlinge aus dem Zentralirak ohne Bindungen zum Nordirak betrifft, nicht geändert (vgl. Senatsurteil vom 8.2.2007 Az. 23 B 06.31052 u.a.). Eine Zuwanderung bzw. Rückkehr in den kurdisch verwalteten Nordirak ist nach Überzeugung des Gerichts zumutbar allenfalls Irakern möglich, wenn sie von dort stammen und ihre Großfamilie/Sippe dort ansässig ist (vgl. DOI vom 13.11.2006). Andere Personen aus dem Zentralirak oder dem Südirak stoßen in den drei unter kurdischer Verwaltung stehenden Provinzen auf erhebliche Schwierigkeiten bei der Erlangung physischen Schutzes, beim Zugang zu Wohnraum und Beschäftigung sowie anderen Dienstleistungen. Eine Umsiedlung aus dem Zentralirak oder Südirak in den Nordirak ermöglicht den Betroffenen nicht, ein normales Leben ohne unzumutbare Härten zu führen (UNHCR vom 8.10.2007, vom 6.2.2007). Seit 2005 wächst die Unzufriedenheit der einheimischen Bevölkerung mit der kurdischen Verwaltung und deren Fähigkeit, die Bereitstellung grundlegender Versorgungsdienste, insbesondere der Wasser-, Brennstoff- und Energieversorgung zu verbessern. Zusätzliche Belastungen erwachsen den ohnehin nur eingeschränkt funktionsfähigen Versorgungssystemen durch die große Anzahl der Binnenvertriebenen in den drei nördlichen Provinzen, wodurch wiederum die Aufnahmekapazitäten in dieser Region drastisch begrenzt werden (UNHCR vom 6.2.2007).

An diesen Verhältnissen gemessen ist der Klägerin eine Rückkehr in den kurdisch verwalteten Nordirak zumutbar. Ihre Eltern stammen aus der im Nordirak befindlichen Stadt Arbil. Wie den beigezogenen Bundesamtsakten der Eltern entnommen werden konnte, leben dort noch ihre Großeltern mütterlicherseits und jedenfalls der Großvater väterlicherseits. Ihre Großfamilie ist dort noch ansässig. Bei einer deswegen möglichen Niederlassung im Nordirak wäre die Klägerin nicht schutzlos gestellt, sondern könnte vielmehr den Schutz der nordirakischen Autonomieverwaltung in Anspruch nehmen, der auch gewährt werden würde. Seit Oktober 1991 üben kurdische Sicherheitskräfte de facto die Sicherheitsverantwortung in den Provinzen Arbil, Dohuk und Suleimania sowie in Teilen der Provinz Kerkuk aus (AALB vom 19.10.2007 S. 12). In diesen unter autonomer kurdischer Verwaltung stehenden Gebieten im Nordirak (Region Kurdistan-Irak) ist die Sicherheitslage besser als in manchen Landesteilen des Zentralirak wie Bagdad, Falludja, Rahmadi, Ramarra oder Baquba. Die Wahrscheinlichkeit, durch einen gegen Dritte gerichteten Anschlag getötet zu werden, ist statistisch geringer als im Zentralirak (AALB vom 19.10.2007 S. 14).