VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 23.07.2008 - 6 UE 154/07.A - asyl.net: M14070
https://www.asyl.net/rsdb/M14070
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Militärangehörige, Landesverrat, Spionage, Monarchisten, Oppositionelle, Nezate-Azadi, NID, OIK, Gesamtbetrachtung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. e; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. a; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. c
Auszüge:

Der Kläger hat unter Berücksichtigung der maßgeblichen, im Zeitpunkt der Entscheidung im vorliegenden Berufungsverfahren vorliegenden Sach- und Rechtslage Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Zu seinen Gunsten ist folglich auch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen.

Hinsichtlich der für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit bedarf es nach Art. 4 Abs. 3 QRL stets einer individuellen, sämtliche in Art. 4 Abs. 3. Buchst. a) bis e) QRL aufgeführten Aspekte einbeziehenden Prüfung der im Einzelfall vorliegenden Verfolgungsgründe. Eine rein generalisierende Sichtweise auf der Grundlage schematischer Verfolgungsmaßstäbe ist mit der Richtlinie nicht vereinbar. Nach den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung bezüglich der für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgeblichen Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgestellt wurden, wurde bislang für vorverfolgte Flüchtlinge der sog. herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab angewendet, wonach dem Betreffenden eine Rückkehr nur bei hinreichender Sicherheit vor abermals einsetzender Verfolgung zugemutet werden kann, bei unverfolgt Ausgereisten dagegen der "normale" Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der das Vorliegen eines beachtlichen, überwiegenden Verfolgungsrisikos verlangt. Mit Rücksicht auf die aus Art. 4 Abs. 4 QRL bezüglich der Verfolgungsprognose zu entnehmenden allgemeinen Kriterien kommt es nunmehr in jedem Fall maßgeblich darauf an, ob der Betreffende unter Berücksichtigung sämtlicher nach Art. 4 Abs. 3 QRL einzustellender Gesichtspunkte eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 QRL begründet befürchten muss. Zwar trifft Art. 4 Abs. 4 QRL lediglich eine Prognoseregelung für den Fall, dass eine Person verfolgt wurde oder eine Verfolgung unmittelbar bevorstand, nicht jedoch eine Vermutungsregel für unverfolgt ausgereiste Flüchtlinge. Aus der Systematik des Art. 4 Abs. 4 QRL ergibt sich aber, dass nach der Richtlinie für den Personenkreis der schon einmal Verfolgten die stattgefundene bzw. unmittelbar drohende Vorverfolgung den ernsthaften Hinweis auf eine auch im Fall der Rückkehr zu erwartende Verfolgung darstellt, während bei nicht vorverfolgten Flüchtlingen der in Art. 4 Abs. 4 QRL so bezeichnete "ernsthafte Hinweis" auf zu erwartende Gefährdungen entfällt, es im Übrigen aber bei der Prüfung bleibt, ob der Flüchtling heute bei Rückkehr in sein Heimatland erwartbar Verfolgungsmaßnahmen erleiden wird oder hiervon unmittelbar bedroht ist. Insoweit kann auch auf die Begriffsbestimmung des Art. 2 Buchst. c) QRL zurückgegriffen werden, wonach "Flüchtling" im Sinne der QRL einen Drittstaatsangehörigen bezeichnet, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Art. 12 keine Anwendung findet. Der letztgenannte Maßstab entspricht dabei dem in der Rechtsprechung entwickelten Maßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" in Anlehnung an die britische Rechtsprechung des "real risk", wobei ggf. auch ein Verfolgungsrisiko von unter 50% als beachtlich wahrscheinliches Risiko angesehen werden kann (vgl. zum Vorstehenden Hess. VGH, Urteil vom 21. Februar 2008 - 3 UE 191/07.A -, Seite 12 und 13 des Urteilsabdrucks, mit weiteren Nachweisen).

Auf ernsthafte Hinweise für eine (erneut) drohende Verfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 QRL auf Grund einer schon im Heimatland erlittenen oder unmittelbar bevorstehenden politischen Verfolgung kann im Fall des Klägers nicht zurückgegriffen werden.

Der Kläger hat aber für den Fall einer Rückkehr in den Iran deshalb eine Verfolgung wegen einer von der herrschenden Staatsdoktrin im Iran abweichenden tatsächlichen oder ihm von Seiten des Staates zugeschriebenen (vgl. Art. 10 Abs. 2 QRL) politischen Überzeugung mit der für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlichen Wahrscheinlichkeit begründet zu befürchten, weil er im Iran dem ernsthaften Risiko einer Bestrafung wegen Spionage und/oder Landesverrats ausgesetzt wäre. Hierbei würde es sich nicht um eine auch nach rechtsstaatlichen Maximen ggf. legitime Strafverfolgung mit dem ausschließlichen Ziel einer Ahndung des mit der Preisgabe von staatlichen Geheimnissen verbundenen Unrechts handeln (vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats vom 15. Februar 2000 - 2 BvR 752/ 97 - InfAuslR 2000, 254 [257]). Vielmehr ist zu erwarten, dass der Kläger durch die iranischen Staatsorgane als außerhalb der staatlichen Friedensordnung stehender "Staatsfeind" in Anknüpfung an seine abweichende politische Überzeugung (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. e), Art. 9 Abs. 2 QRL) behandelt und als solcher physischer Gewalt im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a) QRL unterworfen und einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c) QRL ausgesetzt würde. Als beachtlich wahrscheinlich stellt sich die Gefahr einer sich in der Ausübung physischer Gewalt und strafrechtlicher Verfolgung manifestierenden politischen Verfolgung des Klägers deshalb dar, weil er nahezu 24 Jahre lang - davon 8 Jahre während der Regierungszeit des Schah - als Offizier an zwei der wichtigsten Luftwaffenstützpunkten des Iran (Buschehr und Khark) stationiert war, im Rahmen einer Säuberungsaktion im Jahre 1994 aus dem Militärdienst entlassen wurde, sich einige Jahre später im Rahmen der iranischen Freiheitsbewegung (Nezate-Azadi) oppositionell betätigt hatte, wegen dieser Betätigung in das Visier der Sicherheitsbehörden geraten war, aus Furcht vor Verhaftung illegal ausgereist ist und sich in Deutschland als Mitglied der monarchistischen Exilorganisation "Wächter des ewigen Iran, Organisation Iranischer Konstitutionalisten (N.I.D., O.I.K.)" öffentlich exilpolitisch betätigt hat.

Der Senat ist davon überzeugt, dass sämtliche vorgenannten Gefährdungsmomente in der Person des Klägers verwirklicht sind.

Bei der Gesamtschau der vorgenannten Verfolgungsaspekte ist, auch wenn diese jeweils für sich betrachtet schwerlich geeignet sind, die ernsthafte Rückkehrgefährdung des Klägers zu belegen, von dem beachtlichen Risiko einer an seine abweichende politische Gesinnung anknüpfenden Verfolgung auszugehen.

Zwar gibt es keinen Hinweis auf eine sich zwangsläufig ergebende Gefahr einer auf die abweichende politische Gesinnung des Klägers abzielenden und damit unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c) QRL oder einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a) QRL. Der Senat folgt insoweit der Einschätzung des Auswärtigen Amtes in seiner Auskunft vom 18. September 2007 an den Senat, wonach es keinen Automatismus gebe, dass dem Kläger der Vorwurf gemacht werden könnte, militärische Geheimnisse, die ihm aus seiner Dienstzeit als Offizier bekannt geworden sein könnten, deutschen Stellen preisgegeben und damit Geheimnis- oder Landesverrat begangen zu haben. Ungeachtet dessen sind die für eine solche unter dem Deckmantel der Ahndung strafbaren Unrechts betriebene politische Verfolgung sprechenden Gesichtspunkte derart gewichtig, dass im Falle des Klägers von dem Vorliegen eines beachtlichen Risikos im oben dargestellten Sinne ausgegangen werden muss. Insoweit werden den Kläger nicht nur seine bereits vor der Ausreise offenbar gewordenen und im Ausland fortgesetzten oppositionellen Aktivitäten belasten. Zu seinen Ungunsten wird sich vor allem auch auswirken, dass das Engagement für die monarchistische Opposition aus der Sicht der iranischen Stellen deshalb besonders schwerwiegend erscheinen muss, weil der Kläger schon zu Zeiten des Schah als Offizier gedient hatte und deshalb eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die iranischen Behörden in ihm eine in besonderer Weise uneinsichtige, von Anfang an gegen die jetzige islamisch geprägte Staatsform eingestellte Persönlichkeit sehen und von daher ohne weiteres davon ausgehen, dass dieser mit deutschen Behörden kooperiert und an diese militärische Geheimnisse zum Schaden des Iran weitergegeben haben könnte.

In dieser Einschätzung sieht sich der Senat vor allem durch das Gutachten des Kompetenzzentrums Orient-Okzident der vom 9. Juli 2007 und durch die zu dem Inhalt dieses Gutachtens in der mündlichen Verhandlung gegebenen Erläuterungen des Gutachters Dr. B. bestätigt.

In Anbetracht dieser überzeugenden, im Ergebnis auch von dem Deutschen Orient-Institut geteilten Bewertung vermag der Senat der gegenteiligen Einschätzung des Auswärtigen Amtes, wonach im vorliegenden Fall eine strafrechtliche Verfolgung höchst unwahrscheinlich sei, kein ausschlaggebendes Gewicht beizumessen.