VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Beschluss vom 11.09.2008 - AN 4 S 08.30341 - asyl.net: M14239
https://www.asyl.net/rsdb/M14239
Leitsatz:
Schlagwörter: Verfahrensrecht, offensichtlich unbegründet, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, Streitigkeit nach dem Asylverfahrensgesetz, Unionsbürger, Inhaftierung, Haftort, Strafhaft, Freizügigkeit, Wohnsitz, Abschiebungsandrohung
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AsylVfG § 36 Abs. 3; AsylVfG § 36 Abs. 4; VwGO § 52 Nr. 5; VwGO § 52 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 4; FreizügG/EU § 2 Abs. 2; VwGO § 52 Nr. 3; BGB § 7
Auszüge:

Der – im Rahmen der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung – zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO i. V. m. § 36 Abs. 3, 4 Asylverfahrengesetz (AsylVfG) ist begründet. Das Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung gemäß § 52 Nr. 5 VwGO örtlich zuständig. Es bestehen ernstliche Zweifel im Sinne des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG an der Rechtmäßigkeit der mit dem angefochtenen Bescheid ausgesprochenen Abschiebungsandrohung gegenüber dem Antragsteller, einem niederländische Staatsangehörigen/Unionsbürger.

Die örtliche Zuständigkeit des erkennenden Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach ergibt sich aus § 52 Nr. 5 VwGO. Soweit das Verwaltungsgericht mit Schreiben an die Beteiligten vom 2. September 2008 – vor Eingang der Behördenakten – noch eine Verweisung an das für den Haftort des Antragstellers zuständige Verwaltungsgericht Köln in Nordrhein-Westfalen in Betracht gezogen und die Beteiligten hierzu angehört hat, wird hieran nach näherer Überprüfung der Rechtslage unter Berücksichtigung des Akteninhalts jedenfalls für das Eilverfahren nicht festgehalten.

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind zunächst im Ausgangspunkt "Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz" im Sinne von § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO. Nach dieser Bestimmung ist in solchen Streitigkeiten das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer "nach dem Asylverfahrensgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat".

Eine Streitigkeit nach dem Asylverfahrensgesetz liegt hier vor, auch wenn der Antragsteller – im Hinblick auf die von ihm geltend gemachte niederländische Staatsangehörigkeit bzw. Unionsbürgerschaft sowie Einreise aus den Niederlanden (vgl. insoweit insbesondere §§ 26a Abs. 2, 29a Abs. 2 AsylVfG) – seinen Asylantrag im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylVfG auf das so genannte kleine Asyl bzw. auf Abschiebungsschutz beschränkt hat. Der Antragsteller ist jedoch bei summarischer Überprüfung als niederländischer Staatsangehöriger bzw. Unionsbürger nicht verpflichtet, "nach dem Asylverfahrensgesetz" seinen Aufenthalt im Bezirk der für seinen Haftort zuständigen Ausländerbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen (hier: Stadt ...) bzw. im entsprechenden Verwaltungsgerichtsbezirk zu nehmen. Sein Aufenthalt im Bezirk der Ausländerbehörde der Stadt ... beruht auf rein strafprozessualen bzw. auslieferungsrechtlichen Gründen, nicht auf den Bestimmungen des Asylverfahrensgesetzes. Denn zumindest im summarischen Verfahren spricht hier sehr viel dafür, dass der ursprünglich aus Weißrussland stammende Antragsteller – zumindest auch – die niederländische Staatsangehörigkeit (eventuell neben der weißrussischen) besitzt.

Demgemäß fällt der Antragsteller als Unionsbürger in den Anwendungsbereich der Richtlinie 90/364/EWG (sog. Freizügigkeits-Richtlinie) und der entsprechenden deutschen Umsetzungsbestimmungen im Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU). Unionsbürger bedürfen gemäß § 2 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU für die Einreise in das Bundesgebiet keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels. Für den Aufenthalt von Unionsbürgern von bis zu drei Monaten ist gemäß § 2 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU ohne weitere Voraussetzungen der Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses ausreichend. Voraussetzung für ein den Zeitraum von drei Monaten überschreitendes Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers im Bundesgebiet ist zwar die Erfüllung eines der in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU normierten Tatbestände. Die etwaige Absicht eines Ausländers, im Bundesgebiet kriminelle Handlungen, z.B. Verstöße gegen das Betäubungsmittelrecht, zu begehen, schafft keinen gemeinschaftsrechtlichen Tatbestand für die Zuerkennung des Freizügigkeitsrechts im Inland. Ob beim Antragsteller tatsächlich die gesetzlichen Voraussetzungen zum Erwerb eines Aufenthaltsrechts gemäß Art. 1 Abs. 1 Freizügigkeitsrichtlinie bzw. § 2 FreizügG/EU erfüllt sind, kann und braucht im vorliegenden Eilverfahren letztlich nicht entschieden zu werden. Selbst wenn jedoch der Antragsteller, obwohl er bei summarischer Überprüfung offenbar grundsätzlich in den persönlichen Anwendungsbereich der Freizügigkeitsrichtlinie und des FreizügG/EU fällt, sich ausnahmsweise nicht auf ein Aufenthaltsrecht in Deutschland nach diesen Bestimmungen berufen könnte, weil diesem Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entgegenstünden (vgl. insbesondere § 6 FreizügG/EU und Art. 2 Abs. 2 Satz 3 Richtlinie 90/364/EWG), so bedürfte es zur Begründung einer Ausreisepflicht des Antragstellers aus Deutschland in jedem Fall zunächst einer Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde nach § 7 FreizügG/EU i.V.m. § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Bis zum Zeitpunkt des Vorliegens einer entsprechenden vollziehbaren Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde – das Bundesamt besitzt insoweit keine eigene Entscheidungszuständigkeit – ist davon auszugehen, dass die Freizügigkeitsvoraussetzungen bei dem betreffenden Unionsbürger vorliegen. Eine Verpflichtung des betreffenden Unionsbürgers, in einer Aufnahmeeinrichtung im Sinne der §§ 44 ff. AsylVfG Aufenthalt zu nehmen oder eine räumliche Beschränkung einer Aufenthaltsgestattung nach § 56 AsylVfG zu beachten, besteht – bei summarischer Überprüfung der Rechtslage – nicht.

Demnach ist eine örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Ansbach nach § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO nicht gegeben. Es greift – zunächst – die Verweisungsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 2 VwGO ein.

Aber auch aus § 52 Nr. 3 VwGO, worauf die soeben genannte Bestimmung der VwGO verweist, ergibt sich hier keine örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Köln, in dessen Bezirk der Haftort des Antragstellers liegt. Als einschlägig zu prüfen ist insoweit insbesondere die Voraussetzung gemäß § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO. Hierzu ist festzustellen, dass zwar der hier streitgegenständliche Bescheid vom 18. August 2008 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dessen zentraler Sitz sich in Nürnberg befindet, d.h. innerhalb des Gerichtsbezirks des Verwaltungsgerichts Ansbach, als von einer Behörde erlassen worden ist, deren Zuständigkeitsbereich sich auf mehrere Verwaltungsgerichtsbezirke erstreckt. Jedoch hat der Antragsteller im Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichts Köln trotz seines Aufenthalts in der JVA ... keinen "Sitz oder Wohnsitz" im Sinne von § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO. Der Begriff "Sitz" bezieht sich ohnehin von vorneherein nicht auf natürliche Personen, sondern auf Personenvereinigungen, juristische Personen bzw. Behörden (vgl. etwa Eyermann, VwGO, § 52, RdNrn. 14, 25). Allein der Begriff "Wohnsitz" bezieht sich auf natürliche Personen. Mangels eigenständiger Definition des Wohnsitzbegriffs in der VwGO ist insoweit auf den allgemeinenWohnsitzbegriff in §§ 7 ff. BGB zurückzugreifen (vgl. etwa Eyermann, VwGO, § 52, RdNrn. 14, 25). Demnach hat eine natürliche Person ihren Wohnsitz dort, wo sie sich tatsächlich niedergelassen hat verbunden mit dem Willen, diesen Ort zum ständigen Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse zu machen, wobei sich der so genannte Domizilwille jedoch auch aus den Umständen ergeben kann (vgl. etwa Palandt-Heinrichs, BGB, § 7, RdNrn. 6, 7 m.w. N.). Im vorliegenden Fall spielt nach Aktenlage bei summarischer Überprüfung Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller letztlich seinen Wohnsitz an seinem letzten Wohnort in den Niederlanden (...) nicht aufgeben wollte. Sein Aufenthalt in der JVA ... beruht nicht auf einem eigenen freien Willensentschluss im vorgenannten Sinn, sondern, wie dargelegt, auf polizeilichen bzw. gerichtlichen Zwangsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Begehung von Straftaten.

Ein Wohnsitzbegründungswille des Antragstellers für einen Ort im Bezirk des Verwaltungsgerichts Köln kann bei vernünftiger Betrachtung auch nicht daraus hergeleitet werden, dass der Antragsteller sich gegen seine Auslieferung von Deutschland nach Weißrussland wehrt, derzeit offenbar mit einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (vgl. Behördenakte Blatt 1 ff.). Der Wille, einen Wohnsitz im Sinne von § 7 BGB an einem bestimmten Ort im Inland zu begründen, erfordert mehr, als lediglich den Willen, eine zwangsweise Verbringung an einen anderen Ort bzw. in ein anderes Land abzuwehren, er erfordert vielmehr, wie oben bereits ausgeführt, den Willen, einen bestimmten Ort im Inland, zumindest auf eine gewisse Dauer, zum Schwerpunkt seiner gesamten Lebensverhältnisse zu machen. Dafür, dass der Antragsteller, dessen Familie, soweit bei summarischer Überprüfung unter Berücksichtigung des Akteninhalts ersichtlich, in den Niederlanden lebt, einen Ort im Bezirk des Verwaltungsgerichts Köln in diesem Sinne als Wohnsitz gewählt hatte, sei es auch stillschweigend, ist bei summarischer Überprüfung nichts ersichtlich.

Nach alledem kommt die in § 52 Nr. 3 Satz 3 VwGO normierte Weiterverweisung auf § 52 Nr. 5 VwGO zum Tragen. Demnach ist der "Sitz des Beklagten", mithin also hier der (zentrale) Sitz des Bundesamtes, nämlich Nürnberg (vgl. Eyermann, VwGO, § 52, RdNr. 25 m.w.N.), entscheidend für die Bestimmung des örtlich zuständigen Verwaltungsgerichts, d.h. also des Verwaltungsgerichts Ansbach.

Der, wie ausgeführt, zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 36 Abs. 3 und 4 AsylVfG, über den gemäß § 76 Abs. 4 AsylVfG der Einzelrichter bei dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht Ansbach (siehe oben) zu entscheiden hat, ist in der Sache auch begründet.

Wie oben bereits bei der Erörterung der örtlichen Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Ansbach sinngemäß ausgeführt, gehen die Bestimmungen der Freizügigkeitsrichtlinie bzw. des Freizügigkeitsgesetzes/EU im Ergebnis den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen des Asylverfahrensgesetzes als Spezialbestimmungen vor. Dies hat auch zur Folge, dass gegenüber freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern – jedenfalls so lange keine vollziehbare Beschränkung des unionsrechtlich verbürgten Freizügigkeitsrechts durch die zuständige Ausländerbehörde erfolgt ist (§ 7 FreizügG/EU i.V.m. § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) – auch keine Abschiebungsandrohung nach §§ 34 ff. AsylVfG ergehen kann. Auch insoweit wird in der oben bereits erwähnten bundesamtsinternen Dienstanweisung (DA-Asyl) die gleiche Rechtsauffassung vertreten wie hier vom erkennenden Verwaltungsgericht. Eine inzidente Überprüfung der Vorfragen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hier offensichtlich nicht vorliegen bzw. ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, brauchte nach alledem nicht vorgenommen zu werden.