Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei für Vater von Söhnen, die im Verdacht stehen, der PKK anzugehören.
Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei für Vater von Söhnen, die im Verdacht stehen, der PKK anzugehören.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die zulässige Anfechtungsklage ist im gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung begründet. [...]
Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) für den Kläger liegen nicht vor. [...]
Der angefochtene Bescheid unterliegt bereits formellen Bedenken. [...]
Vorliegend war aber die in § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG normierte Drei-Jahres-Frist bereits abgelaufen. Diese Frist beginnt in Altfällen wie dem vorliegenden vom 1. Januar 2005 an zu laufen. Sie war damit bei Erlass des streitbefangenen Widerrufsbescheides im Mai 2008 unzweifelhaft verstrichen. Es könnte deshalb zu erwägen sein, dass es gemäß § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG einer – hier nicht ergangenen – Ermessensentscheidung des Bundesamtes über den Erlass eines Widerrufs bedurft hätte. Fraglich ist indessen, ob aus dem bloßen Ablauf der Drei-Jahres-Frist die Pflicht zu einer Ermessensentscheidung resultiert (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. März 2007 – 1 C 21.06 –,und vom 12. Juni 2007 – 10 C 24.07 –, InfAuslR 2007, 401).
Einer Vertiefung bedarf das nicht. Ebenfalls kann offen bleiben, ob in der vorliegenden Konstellation die Jahresfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2, 48 Abs. 4 VwVfG gilt.
Denn der Widerruf ist jedenfalls materiell rechtswidrig. [...]
Dem Kläger ist auf der Grundlage der in Bestandskraft erwachsenen Feststellungen des bundesamtlichen Bescheides vom 15. Mai 1996 politischer Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG gewährt worden, weil er wegen der sicherheitsbehördlichen Suche nach seinen der PKK-Angehörigkeit verdächtigten Söhnen gemäß dem von ihm glaubhaft geschilderten Sachverhalt mehrfach festgenommen und misshandelt worden und er so faktisch vorverfolgt ausgereist ist und danach davon auszugehen sei, dass er im Rückkehrfall mit der zum Entscheidungszeitpunkt erforderlichen Wahrscheinlichkeit abschiebungsschutzrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein würde.
Die Beklagte hat den vom Kläger geschilderten Sachverhalt und die darauf beruhenden bundesamtlichen Feststellungen vorliegend nicht in Frage gestellt. Sie hat vielmehr unter näherer Darlegung der seit der Anerkennungsentscheidung in der Türkei durchgeführten Reformen und der zu verzeichnenden Fortschritte hinsichtlich der Wahrung der Menschenrechte angenommen, der – vorverfolgt ausgereiste und folglich durch den herabgestuften Prognosemaßstab begünstigte – Kläger sei nunmehr vor (erneuter) politischer Verfolgung hinreichend sicher.
Dieser Einschätzung ist zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nach der ständigen Rechtsprechung der erkennenden Kammer nicht zu folgen.
Zwar hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. Konkret wurden die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die eine politische Verfolgung durch den Staat ausschließen sollen. Namentlich sind nachdrückliche Anstrengungen unternommen worden, die Anwendung von Folter zu unterbinden.
Die Reformen in der Türkei haben indessen noch nicht zu einer so nachhaltig stabilisierten Verbesserung der Menschenrechtslage geführt, dass Personen, die, wie der Kläger, wegen der Suche nach seinen der PKK-Unterstützung verdächtigten Söhnen zum Zeitpunkt ihrer Ausreise in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten waren und deshalb aus begründeter Furcht wegen der bereits erlittenen bzw. vor weiteren unmittelbar bevorstehenden Verfolgungsmaßnahmen ihr Heimatland verlassen haben, heute bei einer Rückkehr in die Türkei bei nach wie vor bestehendem Verfolgungsinteresse gegenüber den Söhnen keine Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit in Form von Folter oder Misshandlungen im Rahmen sog. Sippenhaft zu befürchten hätten. Solche menschenrechtswidrigen Maßnahmen durch türkische Sicherheitsorgane können jedenfalls nicht – wie für § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG notwendig – mit hinreichender Sicherheit in der Praxis ausgeschlossen werden, so dass die Widerrufsvoraussetzungen bezüglich der Zuerkennung des politischen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) nicht vorliegen.
Auch nach den jüngeren Auskünften kann nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Türkei heute nur noch mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Angehörige und Unterstützer der PKK vorgeht, unabhängig davon, ob deren in der Vergangenheit liegende Aktivitäten nach heutigem ürkischem Recht noch strafbar wären. Vielmehr bleibt die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den unstreitig wesentlich verbesserten rechtlichen Rahmenbedingungen zurück. Noch immer kommt es zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden. Das hat das OVG NRW in seinem die Erkenntnislage bis Anfang 2005 umfänglich auswertenden Urteil vom 19. April 2005 – 8 A 273/04. A. – näher ausgeführt. Dem folgt das erkennende Gericht (vgl. z.B. Urteile der Kammer vom 16. Januar 2007 – 14a K 1219/06.A – und 14a K 1885/06.A – und 11. August 2008 – 14a K 2394/07.A –).
Von dieser grundlegenden Bewertung der Menschenrechtssituation in der Türkei, insbesondere in Bezug auf den Umgang mit kurdischen Volkszugehörigen und individuell "Terrorismus-Verdächtigen" abzuweichen, besteht für die Zeit darnach kein zureichender Anlass. Vielmehr kommt es in der Türkei trotz der umfassenden Reformbemühungen, vornehmlich der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter, weiterhin zu Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität, die dem türkischen Staat zurechenbar sind. Vorverfolgt ausgereiste Asylbewerber sind deshalb auch gegenwärtig vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Oktober 2006 – 8 A 1448/06.A – und, die aktuellere Auskunftslage auswertend, OVG NRW, Urteile vom 27. März 2007 – 8 A 4728/05.A – www.nrwe.de und vom 17. April 2008 – 8 A 2584/07.A –; vgl. auch Urteil des OVG Lüneburg vom 18. Juli 2006 – 11 LB 264/05 – Juris).
So sind auch für das Jahr 2006 wieder zahlreiche Fälle von Folter und Misshandlung gemeldet worden, mag auch die Anzahl "schwerer" Folterfälle stark zurückgegangen sein und sich die Situation im Vergleich zu den Jahren vor 2001 erheblich verbessert haben. Das Auswärtige Amt weist auch in seinem jüngsten Lagebericht darauf hin, dass es bislang vornehmlich wegen nicht ausreichend effizienter Strafverfolgung von Foltertätern noch nicht gelungen sei, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden und räumt zudem ein, dass darüber, in welchem Umfang es zu inoffiziellen Gewahrsamnahmen durch Zivilisten oder durch Sicherheitskräfte in Zivil mit Misshandlung oder Folter kommt, keine zuverlässigen Erkenntnisse vorliegen (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei – Lagebericht – vom 25. Oktober 2007 – Stand September 2007 – (S. 29 ff); vgl. auch Lagebericht vom 11. Januar 2007 (Stand: Dezember 2006) S. 37 ff. (38, 40)).
Auch wenn das Auswärtige Amt die Gefahr, im Justizvollzug Opfer von Misshandlungen durch Sicherheitskräfte zu werden, als unwahrscheinlich einschätzt, finden solche außerhalb regulärer Haft nach wie vor statt (OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 – 8 E 4728/05.A –, S. 21 des amtlichen Abdrucks).
Die Europäische Kommission hat, wie aus allgemein zugänglichen Quellen ersichtlich, mit dieser Erkenntnislage übereinstimmend Ende des Jahres 2006 aus Anlass der Veröffentlichung des Fortschrittsberichts massive Kritik an der Türkei geübt und unter Hinweis darauf, dass die Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte besonders in den Kurdengebieten im Südosten nach wie vor europäischen Maßstäben nicht gerecht werde, die Türkei ermahnt, die Strafverfolgung und die Gerichtspraxis mit dem "Geist der Reformen in Einklang zu bringen." (vgl. Fortschrittsbericht der EG-Kommission vom 8. November 2006 und FAZ vom 8. November 2006 "Türkische Defizite" – Vor der Veröffentlichung zweier EU-Dokumente –, SDZ vom 2. November 2006 "EU-Kommission rügt die Türkei" –, Brüssel sieht fundamentale Rechte nicht gewährleistet/Zypern-Frage könnte Beitrittsgespräche scheitern lassen sowie Deutsche Welle, 8. November 2006 "EU-Kommission übt scharfe Kritik an der Türkei", abrufbar unter www.dwworld.de).
Ungünstig auf die innenpolitische Entwicklung hat sich zudem das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei ausgewirkt, in deren Folge die PKK in den Jahren 2005 und 2006 sowie im Mai 2007 erstmals seit langer Zeit wieder Anschläge selbst auf touristische Ziele in der Türkei verübt hat. Das hat zur Verschärfung des Anti-Terror-Gesetzes durch das türkische Parlament am 29. Juni 2006 sowie im Jahr 2007 zur Ausweisung von Sicherheitszonen mit militärischen Sperrgebieten geführt. Im Zusammenhang mit den Kampfhandlungen ist ein Anstieg von Menschenrechtsverletzungen sowie von Übergriffen der Sicherheitskräfte auf kurdische Dorfbewohner zu verzeichnen, denen vorgeworfen wird, PKK-Kämpfer zu unterstützen. Die Änderungen des Anti-Terror-Gesetzes, vornehmlich die auch nach Bewertung des Auswärtigen Amtes "wenig konkret gefasste Terror-Definition", geben in diesem Zusammenhang Anlass zur Besorgnis, weil sie geeignet sind, die Bemühungen um die Bekämpfung der Folter und Misshandlung zu untergraben (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 25. Oktober 2007, S. 14 und 18; vgl. auch OVG NRW Urteil vom 27. März 2007 – 8 E 4728/05.A – S. 22 des amtlichen Abdrucks).
Die "Abmilderung" des § 301 tStGB durch das türkische Parlament im Mai 2008 hat daran nichts Substantielles geändert (vgl. "Türkei gewährt mehr Meinungsfreiheit", SDZ vom 2. Mai 2008).
Auch haben sich trotz Verbesserung des Minderheitenschutzes im Zuge der EU-Bewerbung der Türkei die Hoffnungen der kurdischen Minderheit im Südosten der Türkei auf eine Verbesserung ihrer politischen sozialen und wirtschaftlichen Lage weitgehend nicht erfüllt (OVG Lüneburg, Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O. m.w.Nw.)
Es mag sein, dass für prominente Gefangene wie Abdullah Öcalan oder Metin Kaplan, die unter internationaler Beobachtung stehen, die Gefahr der Misshandlung und Folter relativ gering ist (vgl. zum Fall Kaplan OVG NRW, Urteil vom 26. Mai 2004 – 8 A 3852/03.A – bzw. zu Widerrufsentscheidungen ggü dessen Familienangehörigen Beschluss vom 28. März 2006 – 8 A 4905/05.A –).
Dies trifft aber auf relativ unbedeutende (vermeintliche) Unterstützer gewaltsam agierender Oppositionsgruppen, insbesondere der PKK, nicht gleichermaßen zu. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass sich die türkische Regierung unter Ministerpräsident Erdogan, die durchaus bemüht ist, Folter und Misshandlung durch staatliche Kräfte zu unterbinden, allem Anschein nach in der Defensive gegenüber nationalistischen Kräften und Teilen des Militärs befindet, mag auch das verfassungsrechtliche Verfahren zum Verbot der Regierungspartei AKP erfolglos geblieben sein. Diesen nach wie vor starken Kräften auch in Justiz- und Polizeiapparat ist die Annäherung der AKP-Regierung an die Europäische Union und die auf eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts zielende Politik suspekt. Diese Gruppen haben kein Interesse an der Einhaltung der Reformen, sondern sind im Gegenteil bestrebt, den Beitritt zu erschweren, weil sie den Verlust eigener Machtpositionen befürchten. Auch ist der Ruf nach "einschneidenden Maßnahmen" zur Terrorbekämpfung mit Wiedererstarken des PKK-Terrorismus lauter geworden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 11. Januar 2007, S. 10, 36 ff und vom 25. Oktober 2007 S. 5, sowie OVG Lüneburg, Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.O., Juris, RdNr. 77 sowie die aktuelle, allgemein zugängliche Presseberichterstattung).
Vor dem Hintergrund all dessen trägt auch die im aktuellen Lagebericht wiederholte, gutachterlich untermauerte Feststellung des Auswärtigen Amtes, seit Jahren sei kein einziger Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei, nicht die Prognose, der von Verfolgungsmaßnahmen tatsächlich betroffen gewesene Kläger sei vor erneuter politischer Verfolgung bzw. menschenrechtswidriger Behandlung hinreichend sicher (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 – 8 E 4728/05.A – S. 23 f des amtlichen Abdrucks sowie Urteil vom 17. April 2008 – 8 A 2584/07.A – und die ständige Kammerrechtsprechung seit Urteilen vom 16. Januar 2007 – 14a K 1219/06.A – und 14a K 1885/06.A –). [...]