VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 05.02.2009 - A 5 K 2571/08 - asyl.net: M14951
https://www.asyl.net/rsdb/M14951
Leitsatz:

Vorläufiger Stopp der Abschiebung in die Demokratische Republik Kongo für Frau, die von ihrer Familie beschuldigt wird, eine "Hexe" zu sein, und die daher als alleinstehende Frau Gefahr laufen könnte, bei Rückkehr zugrunde zu gehen.

Schlagwörter: Demokratische Republik Kongo, Prozesskostenhilfe, Erfolgsaussichten, Asylantrag, Rücknahme, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), ernstliche Zweifel, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, medzinische Versorgung, alleinstehende Personen, alleinstehende Frauen, Hexe, Situation bei Rückkehr, Existenzminimum
Normen: VwGO § 166; ZPO § 114; AsylVfG § 32; AsylVfG § 34 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 4; AsylVfG § 36 Abs. 4; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Vorläufiger Stopp der Abschiebung in die Demokratische Republik Kongo für Frau, die von ihrer Familie beschuldigt wird, eine "Hexe" zu sein, und die daher als alleinstehende Frau Gefahr laufen könnte, bei Rückkehr zugrunde zu gehen.

(Leitsatz der Redaktion)

[...]

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf §§ 114 ff. ZPO, 166 VwGO. Der Antrag hat hinreichende Aussicht auf Erfolg, wie sich aus den nachstehenden Darlegungen ergibt.

Der sachdienlich auszulegende Antrag, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage (A 5 K 2570/08) gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 14.10.2008 anzuordnen, hat Erfolg.

Der Antrag ist zulässig. Das Bundesamt hat in dem genannten Bescheid nach § 32 AsylVfG festgestellt, dass das Asylverfahren eingestellt ist und nach § 34 Abs. 1 AsylVfG eine Abschiebungsandrohung erlassen. Die Klage gegen den genannten Bescheid hat nach § 75 AsylVfG keine aufschiebende Wirkung, weil kein Fall des § 38 Abs. 1 oder des § 73 AsylVfG vorliegt.

Der Antrag ist auch begründet. Die Aussetzung der Abschiebung darf nach Art. 16 a Abs. 4 GG und § 36 Abs. 4 AsylVfG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. [...]

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind hier gegeben, da es der weiteren Aufklärung des Sachverhalts bedarf, um beurteilen zu können, ob bei der Antragstellerin (zumindest) ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Dies erscheint nach derzeitiger Aktenlage möglich. [...]

Bei den typischen Folgen der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen in der Demokratischen Republik Kongo (mangelhafte Versorgungslage, unzureichendes Gesundheitssystem, Arbeitslosigkeit) wie Unterernährung, Krankheit und Tod handelt es sich um eine allgemeine Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, bei der nur ausnahmsweise im Falle einer für den einzelnen Ausländer extrem zugespitzten Gefahrenlage Abschiebungsschutz ohne politische Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt werden darf.

Zur Grundversorgung in der Demokratischen Republik Kongo äußert sich das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 01.02.2008 wie folgt:

"Ohne familiäre Bindung oder sonstige Unterstützung kann die Sicherung einer Existenzgrundlage für Rückkehrer schwierig bis unmöglich sein. Der überwiegende Teil der kongolesischen Bevölkerung lebt am Rande des Existenzminimums. Auch innerhalb der Großfamilie gelingt es nicht immer, Härten durch wechselseitige Unterstützung aufzufangen. Die Stadtbevölkerung in Kinshasa ist in der Lage, mit städtischer Kleinstlandwirtschaft und Kleinviehhaltung die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln zu sichern. Vor allem Frauen und Kinder tragen mit Kleinsthandel zum Familienunterhalt bei. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist für die Bevölkerung in Kinshasa und in den übrigen Landesteilen zwar schwierig, dank verschiedener Überlebensstrategien herrscht jedoch keine akute Unterversorgung."

Zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung in der Demokratischen Republik Kongo führt das Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 01.02.2008 aus:

"Das Gesundheitswesen ist nach wie vor in sehr schlechtem Zustand. Staatliche Krankenhäuser waren schon vor der Rebellion und den Plünderungen von 1998 heruntergewirtschaftet bzw. geplündert, und die Hygiene ist, vor allem bei komplizierten Eingriffen, unzureichend. Der Großteil der Bevölkerung kann nicht hinreichend medizinisch versorgt werden. [..] Ein funktionierendes Krankenversicherungssystem existiert nicht. In der Regel zahlen Arbeitgeber die Behandlungskosten ihrer Beschäftigten. Die Behandlungskosten Arbeitsloser werden unter erheblichen Anstrengungen von der Großfamilie aufgebracht. Nur wenn die notwendigen Geldmittel zur Verfügung stehen, können die meisten in der Demokratischen Republik Kongo vorkommenden Krankheiten diagnostiziert und mit Einschränkungen fachgerecht behandelt werden. Für zahlungskräftige Patienten stehen hinreichend ausgestattete private Krankenhäuser und fachkundige Ärzte zur Verfügung. Ebenso gibt es in Kinshasa einen Pharmagroßhandel, der gegen Bezahlung binnen weniger Tage so gut wie alle auf dem europäischen Markt zur Verfügung stehenden Medikamente auch nach Kinshasa liefern kann."

Die angespannte Versorgungslage und das unzureichende Gesundheitswesen begründen - ohne weitere Besonderheiten in der Person des Betroffenen - keine extreme Gefährdungslage für Leib, Leben oder Freiheit aller ausreisepflichtigen Kongolesen (vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.07.2003 - A 6 S 971/01 - und Urteil vom 13.11.2002 - A 6 S 967/01 -; VG Freiburg, Beschlüsse vom 15.07.2003 - A 1 K 10104/03 - und vom 15.08.2003 - A 1 K 11051/03 -; siehe auch OVG Bautzen, Urteil vom 26.11.2003 - 5 B 1022/02.A -; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.04.2002 - 4 A 3113/95.A -; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 26.04.2002 - 1 L 4821/98 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschlüsse vom 05.03.2003 - 4 LB 124/02 -, vom 10.02.2003 - 4 L 169/02 -, vom 20.12.2002 - 4 L 195/01 - und vom 16.04.2002 - 4 L 39/02 -; OVG Saarland, Beschluss vom 28.03.2003 - 3 Q 10/02 - sowie Urteil vom 14.01.2002 - 3 R 1/01 -; so auch Hessischer VGH, Urteil vom 09.11.2006 - 3 UE 3238/03.A -, juris, zur Lage nach den Wahlen im Herbst 2006).

Die Überlebenschancen der Betroffenen sind vielmehr abhängig von individuellen Faktoren, insbesondere Alter, Gesundheitszustand, Ausbildung, Improvisationstalent, Durchsetzungsvermögen und familiärem Umfeld (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 24.07.2003 - A 6 S 971/01 - und Urteil vom 13.11.2002 - A 6 S 967/01 -). Aufgrund dessen ist im Einzelfall zu prüfen, ob unter Berücksichtigung aller Umstände für den Rückkehrer eine zugespitzte Gefahrenlage aufgrund der Kumulation ungünstiger Rahmenbedingungen existiert (vgl. Urteile der Kammer vom 23.12.2008 - A 5 K 58/07 und A 5 K 1756/08 -).

Im Falle der Antragstellerin erscheint dies zumindest möglich, da sie vorträgt, ihre Familie verfolge sie und halte sie für eine Hexe. Für den Fall, dass dies zuträfe, würde ihr jedenfalls der familiäre Rückhalt in der Demokratischen Republik Kongo fehlen und sie wäre auf sich allein gestellt. Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihres Vortrags sowie zur Einschätzung, ob bei der Antragstellerin weitere individuelle Risikofaktoren vorliegen, ist ihre Anhörung in der mündlichen Verhandlung erforderlich.

Somit bedarf der Sachverhalt der weiteren Aufklärung im Hauptsacheverfahren. [...]