SG Berlin

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Zitieren als:
SG Berlin, Urteil vom 21.01.2009 - S 88 AY 32/08 - asyl.net: M15246
https://www.asyl.net/rsdb/M15246
Leitsatz:

Die örtliche Zuständigkeit nach § 10 a Abs. 1 S. 1 AsylbLG richtet sich allein nach der ersten Zuweisungsentscheidung im Asylverfahren, unabhängig davon, ob der Asylsuchende einer Weiterleitungsanordnung Folge leistet; die räumliche Beschränkung einer Aufenthaltsgestattung bleibt gem. § 56 Abs. 3 AsylVfG bestehen, auch wenn die Aufenthaltsgestattung nach § 67 Abs. 1 Nr. 2 erlischt; die örtliche Zuständigkeit nach § 10 a Abs. 1 S. 2 AsylVfG ist gegenüber Satz 1 der Vorschrift nachrangig.

 

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Verfahrensrecht, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, Erstattung, Erstattungsanspruch, Zuweisung, Zuweisungsentscheidung, Weiterleitung, Aufenthaltsgestattung, räumliche Beschränkung, Erlöschen, Asylgesuch, Asylantrag, tatsächlicher Aufenthalt
Normen: AsylbLG § 9 Abs. 3; SGB X § 105; AsylbLG § 10a Abs. 1; AsylVfG § 46 Abs. 2; AsylVfG § 56 Abs. 3; AsylVfG § 56 Abs. 1; AsylVfG § 14; AsylVfG § 20 Abs. 1; AsylVfG § 67 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

Die örtliche Zuständigkeit nach § 10 a Abs. 1 S. 1 AsylbLG richtet sich allein nach der ersten Zuweisungsentscheidung im Asylverfahren, unabhängig davon, ob der Asylsuchende einer Weiterleitungsanordnung Folge leistet; die räumliche Beschränkung einer Aufenthaltsgestattung bleibt gem. § 56 Abs. 3 AsylVfG bestehen, auch wenn die Aufenthaltsgestattung nach § 67 Abs. 1 Nr. 2 erlischt; die örtliche Zuständigkeit nach § 10 a Abs. 1 S. 2 AsylVfG ist gegenüber Satz 1 der Vorschrift nachrangig.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die als allgemeine Leistungsklage bzw. Feststellungsklage zulässige Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

Anspruchsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Erstattungs- bzw. Feststellungsanspruch ist § 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 105 SGB X. [...]

Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X, auf den § 9 Abs. 3 AsylbLG verweist, ist in dem Fall, dass ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass, wie hier, die Voraussetzungen des § 102 Abs. 1 SGB X vorliegen, der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.

Der Kläger hat Frau M.M. und ihrem Sohn R.M. vor dem 28. September 2006 für die Zeit vom 24. August bis zum 30. Oktober 2006 als örtlich unzuständige Behörde Leistungen nach §§ 3 ff. AsylbLG in der mit der Klage beanspruchten Höhe erbracht. Die örtliche Zuständigkeit für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz richtet sich nach § 10 a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Diese Norm regelt bundeseinheitlich die Frage der örtlichen Zuständigkeit der Behörden, die das Asylbewerberleistungsgesetz zu vollziehen haben, und damit in Bezug auf § 10 AsylbLG zugleich die Frage, wer die Kosten des Vollzugs und die der gewährten Leistungen zu tragen hat. Nach Satz 1 der Vorschrift ist örtlich zuständig die nach § 10 AsylbLG bestimmte Behörde, in deren Bereich der Leistungsberechtigte auf Grund der Entscheidung der vom Bundesministerium des Innern bestimmten zentralen Verteilungsstelle verteilt oder von der im Land zuständigen Behörde zugewiesen worden ist. Die erste Alternative betrifft mithin diejenigen Fälle, in denen der Leistungsberechtigte im bundesweiten Verteilungsverfahren gemäß § 46 AsylVfG durch das BAMF als der für die zentrale Verteilung der Leistungsberechtigten aufgrund einer Entscheidung des Bundesministeriums des Innern zuständigen Behörde auf einen bestimmten Ort verteilt wurde (vgl. Adolph in Linhart/Adolph, SGB II – SGB XII – AsylbLG, 51. Stand: Dezember 2008, § 10a AsylbLG Rn. 9). Dies war hier nach einer entsprechenden Verteilung durch die zentrale Verteilungsstelle im Juni 2005 der Beklagte. Erst im Rahmen der hier nicht einschlägigen Auffangvorschrift des Satzes 2 ist der tatsächliche Aufenthaltsort des Ausländers für die Zuständigkeit erheblich.

§ 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG definiert die „Verteilung“ der vom Bundesministerium des Innern bestimmten zentralen Verteilungsstelle nicht näher, sondern knüpft hiermit an die entsprechende Bestimmung des Asylverfahrensgesetzes an. Gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG benennt wenn, wie hier die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht vorliegen – eine vom Bundesministerium des Innern bestimmte zentrale Verteilungsstelle auf Veranlassung einer Aufnahmeeinrichtung dieser die für die Aufnahme des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung. Nach Satz 2 der Vorschrift sind dafür maßgebend die Aufnahmequoten nach § 45 AsylVfG, in diesem Rahmen die vorhandenen freien Unterbringungsplätze und sodann die Bearbeitungsmöglichkeiten der jeweiligen Außenstelle des Bundesamtes in Bezug auf die Herkunftsländer der Ausländer. Damit wird nach dem geltenden Asylverfahrensgesetz von 1992 mit der Benennung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung bereits das Bundesland, das den Asylbewerber aufzunehmen hat, bestimmt (während nach früherem Recht gemäß § 22 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG 1982 die Zuweisungsentscheidung erst nach der Asylantragstellung verfügt wurde). Der Gesetzgeber hat hierdurch ausdrücklich ein neues Verteilungsverfahren zur gleichmäßigen Auslastung der zur Verfügung stehenden Sammelunterkünfte sicherstellen wollen (vgl. BT-Drs. 12/2062, S. 26). Dies hat zur Folge, dass die bundesweite Verteilung der Asylbewerber bereits zu Beginn des Asylverfahrens stattfindet (vgl. BT-Drs. a.a.O.). Für die Begründung der örtlichen Zuständigkeit gemäß der ersten Alternative des § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG kommt es demzufolge allein auf diese Erstverteilungsentscheidung an. Der jeweils vom BAMF in der Erstverteilungsentscheidung benannte Zielort ist sodann gemäß § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG örtlich zuständig für die Unterbringung und Versorgung mit Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (vgl. Herbst in Mergler/Zink, SGB XII, 3. Lfg., Stand Januar 2005, § 10a Rn. 6; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Auflage 2008, § 10a Rn. 3; Hohm, K.H., Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG – GK-AsylbLG –, Stand: April 2008, § 10a Rn. 26; Adolph, a.a.O., Rn. 10).

Zwar setzt das in § 46 Abs. 2 Satz 1 AsylbLG geregelte Erstverteilungsverfahren voraus, dass in den Bundesländern die erforderlichen Aufnahmekapazitäten (unter Anwendung des "Königsteiner Schlüssels") vorhanden sind (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG; BT-Drs. 12/2718, S. 59). Dies zu steuern obliegt jedoch dem BAMF im Rahmen der Erstverteilung mit Hilfe eines EDV-gesteuerten Verteilungssystems (vgl. BT-Drs. 12/2062, S. 62) über welches vorliegend die EAE Chemnitz bereits im Juni 2005 benannt worden war (vgl. EASY [Erstverteilung von Asylbegehrenden] hier Options-Nr. BE0034384). Ist danach die Aufnahmeeinrichtung, in der der Asylbewerber erstmalig vorgesprochen hat nach der systemgesteuerten Zuweisung für seine Aufnahme unzuständig, wird die nach § 46 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG vom BAMF "benannte" Aufnahmeeinrichtung zuständig. Die "Benennung" durch die zentralen Verteilungsstelle stellt insofern die maßgebliche Entscheidung bezüglich der Verteilung des Asylsuchenden dar und begründet hierdurch, wie bereits oben dargestellt wurde, die örtliche Zuständigkeit der nach § 10 AsylbLG bestimmten Behörde des nach § 10 a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG benannten Ortes (vgl. Herbst, a.a.O. Rn. 7, Wahrendorf, a.a.O., Adolph, a.a.O., Hohm, a.a.O.). Ist nach der verwaltungsinternen Entscheidung des BAMF die vom Asylsuchenden aufgesuchte Aufnahmeeinrichtung – hier die ZAA Berlin im Juli 2005 – unzuständig, leitet diese den Asylsuchenden, wie vorliegend geschehen, an die als zuständig bestimmte Aufnahmeeinrichtung – hier die EAE Chemnitz – weiter (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 AsylVfG). Erst im Anschluss an die Beendigung der Wohnverpflichtung nach § 47 Abs. 1 AsylVfG folgt die hier nicht relevante bundeslandinterne Verteilung nach § 50 AsylVfG bzw. gegebenenfalls länderübergreifende nach § 51 AsylVfG.

Danach sind M.M. und R.M. bereits am 23. Juni 2005 in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten "verteilt" worden. Denn das BAMF als zentrale Verteilungsstelle des Bundes hat an diesem Tag auf Veranlassung der ZAA Berlin die EAE Chemnitz gemäß § 46 Abs. 2 AsylVfG als zuständige Aufnahmeeinrichtung benannt und damit die (Erst-) Verteilungsentscheidung abschließend getroffen.

Insoweit ist es unerheblich, dass die Asylsuchenden M.M und R.M. im Jahre 2005 der Weiterleitungsanordnung der ZAA Berlin keine Folge geleistet hatten und in der EAE Chemnitz tatsächlich nicht erschienen waren. Nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Systematik des § 10 a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit allein nach der Verteilungsentscheidung der zentralen Verteilungsstelle des Bundes (gemäß § 46 Abs. 2 AsylVfG). Weitere oder abweichende Voraussetzungen wie etwa das Folgeleisten einer Weiterleitungsanordnung der unzuständigen Aufnahmeeinrichtung oder das tatsächliche Aufsuchen der zuständigen Aufnahmeeinrichtung durch den Asylsuchenden enthält die Vorschrift nicht (vgl. VG Ansbach, Beschluss vom 4. November 1998, InfAuslR 1999, 315, 316). [...]

Im Übrigen hat die ursprüngliche Verteilungsentscheidung nach Chemnitz auch nach den asylverfahrensrechtlichen Vorschriften aufgrund des ersten Asylbegehrens der M.M. und ihres Sohnes weiterhin Gültigkeit. Nach § 56 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG bleiben räumliche Beschränkungen nach Erlöschen der Aufenthaltsgestattung in Kraft, bis sie aufgehoben werden oder der abgelehnte und vollziehbar ausreisepflichtige, aber noch nicht ausgereiste Asylbewerber einen Aufenthaltstitel erhalten hat (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Mai 2007 - 3 S 23.07 - Juris; VGH Kassel, Beschluss vom 25. August 2006 - 8 TG 1617/06.A - Juris). Sie bleiben auch dann in Kraft, wenn der Asylsuchende, wie hier M.M. und ihr Sohn, der Weiterleitungsanordnung nicht Folge leistet und aufgrund dessen ein Asylverfahren nicht eingeleitet wird (vgl. Marx, AsylVfG, 7. Auflage 2009, § 56 Rn. 3537; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Mai 2007, a.a.O.; OVG Hamburg, Beschluss vom 19. Oktober 2005 - 4 Bs 215/05 - Juris). Denn die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung durch § 56 Abs. 1 AsylVfG besteht nicht erst für die Zeit ab der Stellung des Asylantrages nach § 14 AsylVfG. Vielmehr ist der Aufenthalt des Asylsuchenden bereits infolge der Anbringung seines Asylgesuchs auf den Bezirk der von der bundesweiten zentralen Verteilstelle gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG zugewiesenen Ausländerbehörde beschränkt. Die so begründete räumliche Beschränkung des Aufenthalts wird nicht dadurch gegenstandslos, dass der Asylsuchende die Weiterleitungs- und Meldeanordnung entgegen seiner Verpflichtung nach § 20 Abs. 1 AsylVfG nicht befolgt und sich infolgedessen nicht bei der ihm zugewiesenen Aufnahmeeinrichtung meldet. Zwar ist die durch die Anbringung des Asylgesuchs entstandene gesetzliche Aufenthaltsgestattung gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG erloschen, wenn der Antragsteller innerhalb von zwei Wochen, nachdem er um Asyl nachgesucht hat, keinen Asylantrag in dem Ort der Erstverteilung gestellt hat. Die räumliche Beschränkung bleibt hingegen auch nach Erlöschen der Aufenthaltsgestattung nach § 56 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG weiterhin in Kraft. So liegt der Fall hier. Die räumliche Beschränkung aus dem Asylerstverfahren auf den Bezirk der EAE Chemnitz hat weiterhin Gültigkeit. Sie ist auch nicht etwa durch die im Jahre 2006 M.M. und R.M. ausgehändigte Aufenthaltsgestattung, die eine räumliche Beschränkung auf das Bundesland Berlin enthielt, aufgehoben worden. Denn infolge der Verwendung von Aliaspersonalien hatte die die Aufenthaltsgestattung ausstellende Behörde keinerlei Kenntnis von der bereits bestehenden räumlichen Beschränkung. Dementsprechend hat auch das BAMF die zweite Meldung der M.M. und ihres Sohnes als Asylsuchende in der ZAA Berlin im Jahr 2006 (unter anderen Personalien) nach Durchführung der erkennungsdienstlichen Ermittlungen und Feststellung der Aliaspersonalien zutreffend gemäß § 20 Abs. 2 AsylVfG als Asylfolgeantrag im Sinne des § 71 AsylVfG gewertet und gegenüber der Aufnahmeeinrichtung Chemnitz festgestellt, dass die frühere Verteilungsentscheidung nach Chemnitz gültig ist.

Entgegen der Auffassung des Beklagten folgt eine örtliche Zuständigkeit des Klägers nicht aus § 10 a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG. Danach ist im Übrigen die Behörde zuständig, in deren Bereich sich der Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält. Nach dem eindeutigen Wortlaut, der systematischen Stellung sowie dem Sinn und Zweck dieser Regelung ("im Übrigen") greift diese als allgemeine Auffangbestimmung in einer derartigen Konkurrenzsituation nur, wenn keine örtliche Zuständigkeit nach Satz 1 der Vorschrift begründet wurde. Dies ist jedoch nach den obigen Ausführungen der Fall. Denn es liegt eine abschließende Verteilungsentscheidung vor, so dass es auf den tatsächlichen Aufenthalt der Asylsuchenden im hier entscheidenden Zeitraum nicht ankommt (vgl. Adolph, a.a.O. Rn. 17). [...]