VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 05.02.2009 - 8 A 315/05 - asyl.net: M15592
https://www.asyl.net/rsdb/M15592
Leitsatz:
Schlagwörter: Syrien, Kurden, Demonstration, Strafverfahren, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, Folter, Misshandlung, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Sicherheitskräfte, Geheimdienst, Auslandsaufenthalt, exilpolitische Betätigung, Demokratische Partei Kurdistans - Syrien
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

1. Dem Kläger ist kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren. [...]

Dabei geht das Gericht zwar davon aus, dass das von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen widerspruchsfrei und detailreich berichtete Geschehen anlässlich der beiden Demonstrationen am 15. und 16. März 2004 der Wahrheit entsprechen. [...] Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass der Kläger, nachdem in seiner unmittelbaren Nähe Menschen durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet worden sind, in seiner Verzweiflung und Wut zu einem Stein gegriffen hat, um diesen gezielt auf einen Polizisten zu werfen. Mit diesem Verhalten hat er sich allerdings selbst ins Unrecht gesetzt. Nach § 60 Abs. 6 AufenthG steht die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 - 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung einer Abschiebung nicht entgegen. Insoweit ist klargestellt, dass nicht schon jede mögliche Bestrafung, mag sie auch strenger sein als eine vergleichbare Strafe in der Bundesrepublik Deutschland, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu begründen vermag.

2. Dem Kläger ist jedoch Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 und Abs. 5 AufenthG zu gewähren. Insoweit ist die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen dieser Vorschriften in der Person des Klägers gegeben sind. [...] Hiervon ist das Gericht im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung des Lageberichts des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Syrien vom 5. Mai 2008 überzeugt. In Syrien wenden Polizei, Justizvollzugsorgane und Geheimdienste weiterhin systematisch Gewalt an. Insbesondere bei Fällen mit politischem Bezug wird physische und psychische Gewalt in erheblichem Ausmaß eingesetzt. Schon in normalen Polizeigewahrsam sind körperliche Misshandlungen an der Tagesordnung. In den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste ist die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung noch größer. Die Sicherheitsdienste in Syrien sind unberechenbar und agieren ohne gerichtliche Kontrolle nach ihrem freien Belieben. Das Justizsystem selbst ist in weiten Teilen korrupt. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Kläger bereits bei seiner Einreise in Syrien oder jedenfalls alsbald danach festgenommen und verhört wird. Das Gericht hält es es auch für wahrscheinlich, dass er dabei misshandelt oder sogar gefoltert werden würde, da die Sicherheitskräfte auch noch nach der inzwischen vergangenen Zeit daran interessiert sein dürften, ihn für den Steinwurf zur Verantwortung zu ziehen. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass der lange Auslandsaufenthalt des Klägers für die Sicherheitskräfte zusätzlich Anlass gibt, den Kläger ausführlich zu verhören und ihn unter Zwang über sein Verhalten vor und nach der Ausreise zu befragen. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass kurdische Volkszugehörige in besonders intensiver Weise verhört werden. Kontakte zu anderen politisch aktiven Kurden sind von großem Interesse für die Sicherheitsbeamten, Hinzu kommt noch, dass der ähnlich aussehende Bruder des Klägers wegen der Teilnahme an der Demonstration am 16. März 2004 etwa 2 Jahre inhaftiert gewesen ist und er gegenüber dem Kläger bekundet hat, er sei auch in jüngster Vergangenheit noch nach dem Kläger gefragt worden. Auch dies spricht für eine besonders gründliche Überprüfung des Klägers bei seiner Einreise. Der Kläger ist zwar nicht in exponierter Weise im Bundesgebiet politisch in Erscheinung getreten, aber er ist nach der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bescheinigung vom 22. Juli 2006 immerhin seit mehreren Jahren Mitglied der Demokratischen Partei Kurdistans - Syrien. Dies erhöht das Risiko zusätzlich, dass die syrischen Sicherheitskräfte den Kläger länger als üblich festhalten, um sich über seinen politischen Einsatz im Bundesgebiet für die kurdischen Belange in Syrien zu informieren. Da die Sicherheitskräfte keiner rechtsstaatlichen Kontrolle unterliegen, sondern willkürlich vorgehen, hält das Gericht eine unmenschliche Behandlung des Klägers bei einer Rückkehr nach Syrien insgesamt für überwiegend wahrscheinlich. [...]