VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Beschluss vom 18.11.2008 - 5 L 1771/08 - asyl.net: M15664
https://www.asyl.net/rsdb/M15664
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Auslegung, Antrag, Italien, Schutz von Ehe und Familie, Unionsbürger, Drittstaatsangehörige, Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, Familienangehörige
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6; EMRK Art. 8; AufenthG § 54 Nr. 1; FreizügG § 6 Abs. 1; FreizügG § 6 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Antragstellers vom 17.11.2008, 17.15 Uhr,

der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber dem Antragsteller unterlassen; hilfsweise der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, von aufenthaltsbeendenden Maßnalunen gegenüber dem Antragsteller nach Pakistan abzusehen,

hat Erfolg.

Das Gericht geht dabei im Wege der interessengerechten Auslegung nach § 88 VwGO davon aus, dass es dem Antragsteller nur um die Unterlassung der Abschiebung nach Pakistan geht. Mit Antrag vom 13.8.2008 an den Antragsgegner hatte er nämlich beantragen lassen, nicht nach Pakistan, sondern nach Italien abgeschoben zu werden. Das ist interessengerecht, da der Antragsteller nach keinem denkbaren Gesichtspunkt ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland hat und auch nicht behauptet. Er ist nach dem unanfechtbaren asylrechtlichen Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vorn 24.7.2003 vollziehbar ausreisepflichtig und macht nur für Italien Bleiberechte aus seiner Eigenschaft als Ehemann und Vater geltend. Er kann deshalb nicht verlangen, dass der Antragsgegner jegliche Abschiebungsmaßnahmen, also auch solche nach Italien, unterlässt. Der insoweit missverständliche förmliche Antrag in der Antragsschrift vom 17.11.2008 ist also angesichts der Antragsbegründung und des in der Korrespondenz mit dem Antragsgegner zum Ausdruck kommenden Rechtsschutzzieles dahin auslegungsfähig, dass der Antragsteller begehrt, dem Antragsgegner vorläufig zu untersagen, ihn nach Pakistan abzuschieben. [...]

Das Gericht lässt sich dabei im Wesentlichen von zwei Überlegungen leiten: zunächst von der Wertung, dass der: Antragsteller den behaupteten Anordnungsanspruch bei summarischer Prüfung wohl hätte, wenn er mit seiner französischen Ehefrau in Deutschland leben würde (unten 1); daran anschließend von der Erwägung, dass der europarechtliche Schutz von Ehe und Familie in Italien jedenfalls bei der hier allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung nicht geringer ausgestaltet ist als in Deutschland (unten 2). Hieraus folgt, dass der Antragsteller jedenfalls vorläufig ein Recht darauf bat, nicht nach Pakistan abgeschoben zu werden (unten 3).

1. Nach § 60 a Abs. 2 AufenthG wird einem Ausländer eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtlich unmöglich ist eine Abschiebung, wenn sie aus rechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden darf. Das ist (u.a.) dann anzunehmen, wenn aufgrund vorrangigen Rechts ein zwingendes Abschiebungshindernis besteht. Ein rechtliches Abschiebungshindernis in diesem Sinne kann sich insbesondere aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 8 Abs. 1 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte ergeben. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, mit der französischen Staatsangehörigen ... seit dein 30.12.2006 verheiratet zu sein und jedenfalls seither bis zu seiner Festnahme mit seiner Frau in ehelicher Gemeinschaft in .../Italien gelebt zu haben. Der Antragsteller war dort polizeilich gemeldet. Weiterhin ist glaubhaft gemacht, dass Beide Eltern des am ... 2007 geborenen Kindes ... sind. Schließlich ist durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Ehefrau vom 17.11.2008 glaubhaft gemacht, dass diese zur gemeinsamen Ehe- und Familienführung in Italien bereit ist, sobald der Antragsteller aus der Strafhaft in Deutschland entlassen worden sein wird. Weiteres Indiz für die Ernsthaftigkeit dieser Absicht ist der glaubhaft gemachte Besuch der Ehefrau beim Antragsteller im Gefängnis am 2.1.2008 sowie der ebenfalls glaubhaft gemachte regelmäßige Briefkontakt,

Angesichts dieser Umstände spricht viel dafür, dass der Antragsteller trotz des offensichtlich vorliegenden (Regel-) Ausweisungsgrundes nach § 54 Nr. 1 AufenthG aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung durch das Amtsgericht Leipzig vom 15.12.2003 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten wegen Vergewaltigung - jedenfalls bis zu einer abschließenden Prüfung durch die Ausländerbehörde - einen Anspruch auf Verbleib im Bundesgebiet zur Führung der ehelichen und familiären Lebensgemeinschaft hätte. Denn als Ehegatte einer EU-Staatsangehörigen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 FreizügG/EU) genösse er besonderen Ausweisungsschutz i.S.v. § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU). Dabei wäre des Weiteren zu berücksichtigen, dass die Straftat mindestens drei Jahre vor der Ehe und noch längere Zeit vor der Geburt des Kindes lag. Dem Gericht liegen darüber hinaus die Strafakten nicht vor, um eine eingehendere Prüfung der Hintergründe der Straftat zur Abwägung mit dem Bleiberecht aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK zu Lasten des Antragstellers vorzunehmen. Des Weiteren wäre das Alter des Kindes und die jedenfalls derzeit nicht aufgeklärten Verhältnisse in Pakistan zur Frage einer Rückkehrmöglichkeit nach Italien auch in Ansehung der Art der Straftat von Bedeutung.

2. Hätte der Antragsteller sonach einen Anspruch, vorläufig in Deutschland zu verbleiben, falls die Ehe und Familie hier gelebt würde, so ist des Weiteren aufgrund der hier allein möglichen summarischen Prüfung davon auszugehen, dass dieses Recht in Italien, einem Mitglied der Europäischen Union, ebenso geschützt ist. Der vorliegende Fall bietet jedenfalls derzeit keinen Anlass zur Annahme, dass Italien dem Antragsteller kein Bleiberecht aufgrund seiner familiären Bindungen gewähren wird. [...]

3. Das Gericht verkennt nicht, dass es der Antragsteller möglicherweise schon wesentlich früher in der Hand gehabt hätte, eine Klärung seines rechtlichen Aufenthaltsstatus in Italien herbeizuführen, insbesondere noch vor Ablauf der ihm bereits erteilten Aufenthaltserlaubnis deren Verlängerung zu beantragen. Allerdings spricht, auch gemessen an deutschen Verhältnissen, wenig dafür, dass in dem vorliegenden Fall eine Entscheidung der italienischen Behörden zu einem Aufenthaltsrecht in Italien heute vorliegen würde, wenn der Antragsteller bereits im August 2008 die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis beantragt hätte. Hinzu kämen noch Sprachbarrieren, unter anderem bei der Würdigung des strafgerichtlichen Urteils. [...]

Das Gericht verkennt allerdings auch nicht, dass die Ungewissheit über den Aufenthaltsstatus des Antragstellers in Italien nicht dauerhaft zu einem faktischen Bleiberecht in Deutschland führen kann. Der Antragsteller wird alles seinerseits Mögliche zu veranlassen haben, um den Aufenthaltsstatus in Italien zu klären, notfalls auch durch Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes in Italien. Er wird sich dabei zu vergegenwärtigen haben, dass die Dauer wohl begrenzt ist, innerhalb derer es dem deutschen Staat zumutbar sein kann, den ungewissen Aufenthaltsstatus in Italien zu Gunsten eines vorläufigen faktischen Bleiberechts in Deutschland zu sanktionieren. Deswegen hat das erkennende Gericht die Entscheidung getroffen, dass der Antragsteller nur vorläufig von einer Abschiebung nach Pakistan verschont bleibt. Die nahe Zukunft wird zeigen, welche intensiven Anstrengungen der Antragsteller zur Klärung seines Aufenthaltsstatus unternimmt und welche Erkenntnismöglichkeiten der Antragsgegner zur Klärung des rechtlichen Status des Antragstellers in Italien ausschöpft. [...]