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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 11.05.2009 - 1 BvR 1517/08 - asyl.net: M15743
https://www.asyl.net/rsdb/M15743
Leitsatz:

Es ist Rechtssuchenden nicht zuzumuten, selbst - ohne Inanspruchnahme von Beratungshilfe - Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die den Ausgangsverwaltungsakt erlassen hat (hier: ARGE), wenn nach den Regeln der Kostenerstattung für das Widerspruchsverfahrens die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war.

Schlagwörter: Beratungshilfe, Verfassungsbeschwerde, Rechtsschutzgleichheit, Gleichheitsgrundsatz, Sozialstaatsprinzip, Rechtsstaatsprinzip, Beratungshilfegesetz, behördliche Beratung, Zumutbarkeit, Widerspruch, Widerspruchsverfahren, faires Verfahren, Menschenwürde, notwendige Hinzuziehung, Rechtsanwalt, ARGE
Normen: GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 3; BerHG § 1 Abs. 1 Nr. 2; BerHG § 2 Abs. 1; SGB X § 13; SGB X § 63; SGG § 193; BRAO § 43c Abs. 1; BerHG § 2 Abs. 2 Nr. 4
Auszüge:

Es ist Rechtssuchenden nicht zuzumuten, selbst - ohne Inanspruchnahme von Beratungshilfe - Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die den Ausgangsverwaltungsakt erlassen hat (hier: ARGE), wenn nach den Regeln der Kostenerstattung für das Widerspruchsverfahrens die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war.

(Leitsatz der Redaktion)

[...]

Die Verfassungsbeschwerde erweist sich danach als begründet. Die angegriffene richterliche Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG).

a) Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) und dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) das Gebot einer "weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des Rechtsschutzes" abgeleitet (vgl.BVerfGE 9, 124 130 f.>; 10, 264 270 f.>; 22, 8386>; 51, 295 302>; 56, 139 143>; 63, 380 394 f.>) und diese Forderung des weiteren mit dem Rechtsstaatsgrundsatz (Art. 20 Abs. 3 GG) begründet (vgl. BVerfGE 81, 347 356>). Die Frage, ob aus den Verfassungsprinzipien, die den Grundsatz der Rechtsschutzgleichheit tragen, eine Pflicht zur Angleichung der Stellung Unbemittelter an die der Bemittelten auch für den außergerichtlichen Rechtsschutz hergeleitet werden kann, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 14. Oktober 2008 (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats - 1 BvR 2310/06 -, NJW 2009, S. 209 ff.) beantwortet. Danach sind weder der allgemeine Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 noch das Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG oder das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG in ihrer Geltung auf gerichtliche Verfahren beschränkt. Die im gerichtlichen Verfahren auf Rechtsschutzgleichheit gerichteten Verfassungsgrundsätze gewährleisten dem Bürger deshalb auch im außergerichtlichen Bereich Rechtswahrnehmungsgleichheit.

Der Unbemittelte ist einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt (vgl. BVerfG, NJW 2009, S. 209 210>).

Dabei kann der Gesetzgeber die Rechtswahrnehmungsgleichheit von nicht hinreichend Bemittelten und Begüterten auf unterschiedliche Weise zu erreichen suchen. Wie beim allgemeinen Gleichheitssatz sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers jedoch Grenzen gesetzt. Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen (vgl.BVerfGE 55, 72 88>; 88, 87, 96 f.>; 100, 195 205>; 112, 368 401>; 116, 229 238>). Die Grenzen sind umso enger, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlicher geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl.BVerfGE 82, 126 146>; 88, 87 96>; 106, 166 176>; 111, 160 <,169>) und je erheblicher die Bedeutung der Sozialleistung für die Betroffenen ist (vgl. BVerfGE 60, 113 119>).

Mit dem Beratungshilfegesetz hat der Gesetzgeber diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen zur Gewährleistung der Rechtswahrnehmungsgleichheit grundsätzlich Genüge getan. Das Gesetz stellt sicher, dass Bürger mit geringem Einkommen und Vermögen nicht durch ihre finanzielle Lage daran gehindert werden, sich außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens sachkundigen Rechtsrat zu verschaffen (BTDrucks 8/3311, S. 1). Soweit das Gesetz den Anspruch auf Beratungshilfe vom Vorliegen einschränkender Voraussetzungen abhängig macht, halten diese den Anforderungen einer Angemessenheitskontrolle stand. Insbesondere darf der Rechtsuchende zunächst auf zumutbare andere Möglichkeiten für eine fachkundige Hilfe bei der Rechtswahrnehmung verwiesen werden (vgl. BVerfG, NJW 2009, S. 209 210>).

Die Auslegung und Anwendung des Beratungshilfegesetzes obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Entsprechend dem für die Prozesskostenhilfe geltenden Prüfungsmaßstab überschreiten die Fachgerichte jedoch dann den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung der Bestimmungen des Beratungshilfegesetzes zukommt, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einem unbemittelten Rechtsuchenden im Vergleich zum bemittelten Rechtsuchenden die Rechtswahrnehmung unverhältnismäßig eingeschränkt wird (vgl.BVerfGE 81, 347 358>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 12. Juni 2007 - 1 BvR 1014/07 -, NJW-RR 2007, S. 1369).

b) Ein solcher Fall ist hier gegeben. Die vom Amtsgericht befürwortete Auslegung des Beratungshilfegesetzes, dass es einem Rechtsuchenden zumutbar sei, selbst kostenlos Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die zuvor den Ausgangsverwaltungsakt erlassen hatte, wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Das Amtsgericht verletzt die Rechtswahrnehmungsgleichheit, wenn es bei der Anwendung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG oder auch bezüglich der Erforderlichkeit einer Vertretung (§ 2 Abs. 1 BerHG) davon ausgeht, dass ein vernünftiger Rechtsuchender in denjenigen Fällen, in denen Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind, keine anwaltliche Hilfe für das Widerspruchsverfahren in Anspruch genommen hätte.

aa) Die Versagung der Beratungshilfe führt zu einer Ungleichbehandlung der Beschwerdeführerin gegenüber dem dargestellten Vergleichsmaßstab. Ein Bemittelter, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt, hätte nach normativen Maßstäben fremde Hilfe in Anspruch nehmen dürfen. Allein die Durchführung des kostenlosen Widerspruchsverfahrens von Amts wegen und das Fehlen einer Begründungspflicht lassen nicht den Schluss zu, dass er von seinem Recht, sich durch einen Rechtsanwalt seiner Wahl beraten und vor der Widerspruchsbehörde vertreten zu lassen (vgl. § 13 SGB X), keinen Gebrauch machen würde.

Ein vernünftiger Rechtsuchender darf sich aktiv am Verfahren beteiligen. Dieses Recht wurzelt in dem rechtsstaatlichen Grundsatz des fairen Verfahrens (vgl.BVerfGE 38, 105 111 f.>; 57, 250 274 f.>), der im Verwaltungsverfahren Anwendung findet. Damit wird letztlich dem aus der Menschenwürde abzuleitenden Gebot, dass über die Rechte des Einzelnen nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werden darf (vgl.BVerfGE 9, 89 95>; 26, 66 71>; 57, 250 275>), Rechnung getragen.

Es kann daher durchaus Anlass bestehen, einen Anwalt hinzuzuziehen, auch wenn es im Vorverfahren weder einen Vertretungszwang noch einen Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts gibt und auch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht die Einschaltung eines Anwalts fordert (zu Art. 103 Abs. 1 GG: vgl.BVerfGE 9, 124 132>; 31, 306 308>). Ob der bemittelte Rechtsuchende von diesem Recht für das Widerspruchsverfahren vernünftigerweise Gebrauch macht, kann nicht pauschal verneint werden, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist.

Dabei wird er sich an den Regeln der Kostenerstattung für das Widerspruchsverfahren im Sozialrecht orientieren (vgl. § 63 SGB X, § 193 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Danach ist die Einschaltung eines Anwalts für den obsiegenden Rechtsuchenden im Ergebnis "kostenlos", wenn die Hinzuziehung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls notwendig war. Notwendig ist die Zuziehung nach höchstrichterlicher Rechtsprechung dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen sowie wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten ist, das Vorverfahren selbst zu führen (BSG, Urteil vom 8. Oktober 1987 - 9a RVs 10/87 -, juris; BSG, Urteil vom 15. Dezember 1987 - 6 RKa 21/87 -, SozR 1300 § 63 Nr. 12; BSG, Beschluss vom 29. September 1999 - B 6 KA 30/99 B -, juris).

Durch die Einführung des § 63 SGB X sind Wertungen überholt, wonach es angesichts der Gebührenfreiheit des Vorverfahrens angemessen sei, dass der Widerspruchsführer die Kosten der Vertretung in diesem Stadium stets selbst tragen müsse (vgl. BSGE 24, 207 214>). Auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 22. Januar 1959 (BVerfGE 9, 124 ff.), wonach der damalige Ausschluss der Anwaltsbeiordnung in den unteren Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit durch die Besonderheiten des vergleichsweise klaren Streitstoffes, des fürsorgerischen Parteigegners und der Gesamtkonstruktion des Verfahrens aufgewogen wurde (vgl.BVerfGE 9, 124 133 ff.>), lassen sich angesichts der veränderten Rechtslage nicht mehr in einem Erst-Recht-Schluss auf das Verwaltungsverfahren übertragen (so noch BSGE 24, 207 214>). Der Gesetzgeber hat längst die Prozesskostenhilfe für die unteren Instanzen eingeführt und ist dabei davon ausgegangen (vgl. BTDrucks 8/3068, S. 22 f.), dass das Sozialrecht eine Spezialmaterie ist, die nicht nur der rechtsunkundigen Partei, sondern selbst ausgebildeten Juristen Schwierigkeiten bereitet.

Eine entsprechende Wertung ergibt sich auch aus § 43c Abs. 1 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), wonach zur Verleihung der Fachanwaltsbezeichnung für das Sozialrecht der Nachweis besonderer Kenntnisse und Erfahrungen erforderlich ist. Diese müssen über das Maß hinausgehen, das üblicherweise durch die berufliche Ausbildung und die praktische Erfahrung im Beruf auf einem Gebiet vermittelt wird.

Die Konzeption des geltenden Beratungshilferechts geht von keiner anderen Wertung aus. Während der Gesetzgeber bei Einführung des Beratungshilfegesetzes zunächst eine "Konzentration der öffentlichen Mittel" auf bestimmte Rechtsgebiete verfolgt (vgl. BTDrucks 8/3311, S. 12; vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. Januar 1989 - 1 BvR 1685/88 -, juris) und insbesondere unter Hinweis auf die Beratungspflichten der Behörden das Sozialrecht nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes aufgenommen hatte, hat er dieses Konzept zwischenzeitlich aufgegeben. Er erstreckte den Anwendungsbereich nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 BerHG auch auf das Sozialrecht. In der Gesetzesbegründung des entsprechenden Regierungsentwurfs (vgl. BTDrucks 12/7009, S. 6) heißt es dazu: "Um den rechtsuchenden Bürgern in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen auch in sozialrechtlichen Fragen eine Beratung durch den Anwalt des Vertrauens zu ermöglichen, soll in § 2 Abs. 2 das Sozialrecht, als eines der Gebiete, für das Beratungshilfe gewährt wird, ausdrücklich aufgeführt werden."

Das Amtsgericht hat hier keine konkreten Umstände zur Notwendigkeit einer anwaltlichen Inanspruchnahme oder zur Selbsthilfemöglichkeit der Beschwerdeführerin erwogen. Die Frage nach der Selbsthilfe mag einfachrechtlich im Rahmen des Beratungshilfegesetzes umstritten sein (generell ablehnend Schoreit, in: Schoreit/Groß, Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe, 9. Aufl., 2008, § 1 Rn. 52; für Berücksichtigung im Rahmen eines allgemeinen Rechtsschutzinteresses: Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl., 2005, Rn. 954, 960). Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten wäre aber kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn ein Bemittelter deshalb die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würde.

Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht erkennbar. Der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt wirft nicht bloß einfach gelagerte Tatsachenfragen auf. Es geht nicht um Fragen allgemeiner Lebenshilfe. Bei der Anrechenbarkeit einer Ersparnis aufgrund von Krankenhausverpflegung handelt es sich vielmehr um ein konkretes rechtliches Problem, das zum Zeitpunkt der Antragstellung noch keine höchstrichterliche Klärung erfahren hatte (vgl. BSG, Urteil vom 18. Juni 2008 - B 14 AS 22/07 R -, juris). [...]

Der Hinweis auf die Form und die Frist der Widerspruchseinlegung in der Rechtsmittelbelehrung mag ausreichen, um unter dem Gesichtspunkt der Fristwahrung ein selbständiges Handeln der Beschwerdeführerin als zumutbar anzusehen; er reicht jedoch nicht aus, wenn sie ihre Interessen dadurch wahrnehmen möchte, rechtliche Einwände im Verfahren vorzutragen und sachdienliche Anträge zu stellen.

bb) Die Versagung der Beratungshilfe wird hier nicht durch sachliche Gründe von ausreichendem Gewicht gerechtfertigt. Vielmehr wird die Rechtswahrnehmung der Beschwerdeführerin im Vergleich zu bemittelten Rechtsuchenden unverhältnismäßig eingeschränkt, weil die Verweisung auf die behördliche Beratung die Grenze der Zumutbarkeit überschreitet.

Es kann der Beschwerdeführerin nicht zugemutet werden, den Rat derselben Behörde in Anspruch zu nehmen, deren Entscheidung sie angreifen will.

Schon der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Inanspruchnahme behördlicher Beratung nicht zumutbar sei, wenn eine Vertretung gegenüber einer an sich auskunftspflichtigen Behörde "zur Durchsetzung von Ansprüchen des Bürgers notwendig ist" (BTDrucks 8/3311, S. 11). Dieses Verfahrensstadium unterscheidet sich von einer erstmaligen Antragstellung oder einer bloßen Nachfrage bei der Behörde, die in der Regel als zumutbar angesehen werden kann (vgl. BVerfG, NJW-RR 2007, S. 1369).

Mit dem Entschluss, Widerspruch einzulegen, wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Behörde, der der Bescheid zuzurechnen ist, und nicht gegen bestimmte Mitarbeiter. Der Hinweis des Amtsgerichts auf die organisatorisch getrennte und mit anderem Personal ausgestattete Widerspruchsstelle ist daher nicht ausschlaggebend, wenn wie hier die selbe Behörde (ARGE) als Ausgangs- und Widerspruchsbehörde entscheidet (§ 85 Abs. 2 Satz 2 SGG; § 44b Abs. 3 Satz 3 SGB II, der nach dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts - 2 BvR 2433, 2434/04 -,BVerfGE 119, 331 , weiter anwendbar ist) und die internen Strukturen und Verantwortlichkeiten für die Beschwerdeführerin nicht offensichtlich sind.

Soll die ARGE zusätzlich zur Überprüfung auch noch Beratung und Formulierungshilfe beim Widerspruch gegen die eigene Verwaltungsentscheidung leisten, besteht die abstrakte Gefahr von Zirkelschlüssen und Interessenkonflikten. Da die beratungsbedürftige Beschwerdeführerin die verschiedenen Interessen nicht ausreichend durchschaut und zu weiterführenden Rechtsausführungen nicht in der Lage ist, wird sie befürchten, dass die Behörde an der einmal als zutreffend erachteten Entscheidung festhalten wird. Sie wird daher deren Rat misstrauen. Unabhängig von der Frage, ob dieses Misstrauen berechtigt ist, ist der behördliche Rat aus Sicht der Beschwerdeführerin daher nicht mehr geeignet, ihn zur Grundlage einer selbständigen und unabhängigen Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte im Widerspruchsverfahren zu machen.

Daran ändert auch der Hinweis auf die Sachkompetenz der Behörde und deren Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG nichts. Die ARGE ist und bleibt - unabhängig von der Frage der Beratungshilfe - sowohl zu einer rechtmäßigen Sachbehandlung als auch zu einer korrekten Beratung verpflichtet. Dadurch sind Fehlentscheidungen jedoch nicht per se ausgeschlossen. Von der Rechtsuchenden kann nicht erwartet werden, sich darauf zu verlassen, dass die Behörde aufgrund eigener Kompetenz immer zu einer richtigen Entscheidung gelangen werde. Dies gilt insbesondere auch angesichts der bekanntermaßen hohen Widerspruchs- und Klagequote in Verfahren über Leistungen nach dem SGB II und der noch ausstehenden höchstrichterlichen Klärung neuer Rechtsfragen.

Dem bemittelten Rechtsuchenden steht dagegen mit dem Anwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) zur Seite, den er frei auswählen kann und dessen Unabhängigkeit gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Rechtsanwalt darf keine Bindungen eingehen, die seine berufliche Unabhängigkeit gefährden (§ 43a Abs. 1 BRAO), er ist zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 43a Abs. 2 BRAO) und darf keine widerstreitenden Interessen vertreten (§ 43a Abs. 4 BRAO). Diesen berechtigten Anforderungen an die Unabhängigkeit des Beraters genügt die behördliche Beratung nicht.

Außerdem kann die Behörde eine Durchsetzungshilfe nicht im selben Umfang leisten wie ein Rechtsanwalt. Ein Behördenmitarbeiter darf nach § 16 Abs. 1 Nr. 3 SGB X nicht zugleich als gewillkürter Vertreter eines Beteiligten auftreten. Demgegenüber kann die Tätigkeit des Rechtsanwalts die Unterrichtung über die Rechtslage, die Empfehlung eines Verhaltens und die Hinweise auf dessen Risiken sowie die Vertretung des Rechtsuchenden als "Durchsetzungshilfe", angefangen von der Einlegung und Begründung des Widerspruchs über die Abgabe weiterer Erklärungen, Anrufe, Vorsprachen bis hin zur Hilfe für die Beendigung des Widerspruchsverfahrens umfassen. Er trägt durch den Blick „von außen“ insbesondere zur Pluralität der Meinungsbildung und Klärung der Rechtslage bei.

Zu berücksichtigen ist auch, dass das Vorverfahren in ein Klageverfahren mit der beratenden Behörde als potentiellem Prozessgegner münden kann. Das Widerspruchsverfahren dient nicht nur dem Zweck einer Selbstkontrolle der Verwaltung, sondern auch dem Rechtsschutz des Betroffenen und der Entlastung der Gerichte (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., 2008, Vor § 77 Rn. 1a; Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Aufl., 2004, § 68 Rn. 2a). Als notwendige Prozessvoraussetzung ist es eng mit dem Klageverfahren verknüpft und bezweckt insbesondere die Klärung des künftigen Streitgegenstands. Mit Blick auf die mögliche gerichtliche Auseinandersetzung und die prozessrechtlichen Grundsätze der Waffengleichheit und der gleichmäßigen Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang (vgl.BVerfGE 52, 131 144, 156>), ist es unzumutbar, der Beschwerdeführerin eine allein ihren Interessen verpflichtete Beratung, wie sie dem Bemittelten mit dem Anwalt zur Verfügung steht, vorzuenthalten und statt dessen der Behörde mit der Beratungstätigkeit Einfluss auf die Art und Weise der Rechtswahrnehmung des Rechtsuchenden zu geben.

Auch wenn sich im Einzelfall ein objektiver Mehrwert anwaltlicher Beteiligung gegenüber behördlicher Beratung nicht empirisch voraussagen lässt, handelt es sich bei einer zusätzlichen und von außen kommenden Durchsetzungshilfe im Widerspruchsverfahren grundsätzlich um eine geeignete Maßnahme zur Effektivitätssteigerung des Verfahrens. Diesem Gesichtspunkt kommt wegen des existenzsichernden Charakters der erstrebten Sozialleistung besondere Bedeutung zu. Im konkreten Fall geht es um die Beratung wegen einer geminderten Leistung von Arbeitslosengeld II. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl.BVerfGE 82, 60 80>). Insofern ist auf eine möglichst effektive Gestaltung des Vorverfahrens insbesondere wegen seiner grundsätzlich zeitverzögernden Wirkung und Verbindung zum Klageverfahren zu achten. Auch wegen der grundrechtsrelevanten Bedeutung des Verfahrens ist es nicht zumutbar, der Beschwerdeführerin die Mittel zu versagen, die einem vernünftigen Rechtsuchenden zur effektiven Rechtswahrnehmung zur Verfügung stünden.

Der rein fiskalische Gesichtspunkt, Kosten zu sparen, kann nach den dargestellten Gründen nicht als sachgerechter Rechtfertigungsgrund angesehen werden. [...]