VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 26.10.2009 - A 1 K 1757/09 - asyl.net: M16348
https://www.asyl.net/rsdb/M16348
Leitsatz:

Dublin II/Griechenland: Verurteilung des BAMF zum Selbsteintritt.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin II-VO, Griechenland, Selbsteintritt, Konzept der normativen Vergewisserung,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, EG VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2, EG VO Nr. 343/2003 Art. 18 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO kann abweichend von Absatz 1 – wonach der Antrag von dem nach Kapitel III der Verordnung zuständigen Mitgliedstaat geprüft wird – "jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist". Dadurch wird er "zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen" (Satz 2).

Die Vorschrift richtet sich ihrem Wortlaut nach an die Mitgliedstaaten, wobei nach Auffassung der Kommission politische, humanitäre oder praktische Erwägungen zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts führen können (Schröder, Die EU-Verordnung zur Bestimmung des zuständigen Asylstaats, ZAR 2003, S. 126 [128 und 131]). Humanitäre Erwägungen sind dabei nach Auffassung der Kammer auch und insbesondere solche, die auf die Folgen einer Rückführung für den Asylbewerber abstellen. Jedenfalls soweit (gewichtige) derartige Umstände vorgetragen werden oder der Beklagten bekannt sind, besteht ein Anspruch des Asylbewerbers auf deren Berücksichtigung (weitergehend Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar, Stand Oktober 2009, § 27a AsylVfG Rn. 134 m.w.N.; Hruschka, Humanitäre Lösungen in Dublin-Verfahren, Asylmagazin 2009, S. 5 [9 f.]).

Der Kläger hat keine Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts geltend gemacht, die allein ihn betreffen. Solche sind auch nicht ersichtlich. Die Kammer geht jedoch aufgrund der ihr vorliegenden und ins Verfahren eingeführten bzw. der Beklagten bekannten Erkenntnismittel davon aus, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung nach Griechenland nicht in der Lage wäre, ein Asylverfahren unter Wahrung allgemeiner Mindeststandards zu durchlaufen. [...]

Die Prüfung der Verhältnisse in Griechenland ist trotz Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG und des darin zum Ausdruck kommenden Konzepts der normativen Vergewisserung möglich. Zwar gilt Griechenland kraft Verfassung als sicherer Drittstaat. Nicht von Bedeutung ist dabei, ob und in welchem Maße EU-Richtlinien zur Harmonisierung des Asylrechts von Griechenland rechtlich umgesetzt worden sind und tatsächlich beachtet werden. Art. 16a Abs. 2 GG und die Erklärung Griechenlands zum sicheren Drittstaat wurden vom Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 14.05.1996 (2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93; BVerfGE 94, 49) nicht für verfassungswidrig gehalten, obwohl eine Harmonisierung damals "noch in den Anfängen" stand (S. 89). Es ist grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Beklagte dieser Einschätzung des verfassungsändernden Gesetzgebers (weiterhin) folgt, obwohl mittlerweile die Harmonisierung des Asylrechts auf Ebene der Europäischen Union vorangeschritten ist.

Dem Konzept der normativen Vergewisserung sind jedoch Grenzen gesetzt, wie auch das Bundesverfassungsgericht anerkannt hat. Außerhalb dieser Grenzen liegt etwa der Fall, dass "sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG hierauf noch aussteht". Auch in seiner einstweiligen Anordnung vom 08.09.2009 (2 BvQ 56/09) hält das Bundesverfassungsgericht Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung auch bezogen auf Staaten, die kraft Verfassung sichere Drittstaaten sind, für möglich. Die Missstände in Griechenland haben nach Auffassung der Kammer ein Ausmaß erreicht, das eine Reaktion des Gemeinschaftsgesetzgebers nach sich ziehen muss. Die Europäische Kommission hat daher auch vorgeschlagen, die Dublin II-VO dahin zu ändern, dass ein Mitgliedstaat bei einem unerwartet hohen Aufkommen von Asylbewerbern das Dublinsystem vorübergehend aussetzen könne (vgl. Europäische Asylpolitik, Gemeinsame Stellungnahme zum derzeitigen Stand der Harmonisierung des europäischen Flüchtlingsrechts, Amnesty Asyl-Info 2009, S. 17, 26). Auch wurde Griechenland wegen "unhaltbarer Zustände" in seinen Flüchtlingslagern von den EU-Innenministern kritisiert (NZZ online, Nachricht 21.09.2009, Streit über Flüchtlingspolitik in Europa spitzt sich zu, www.nzz.ch/nachrichten/international/eu_fluechtlinge_1.3625121.html).

Die Situation ist daher mit der vom BVerfG als Ausnahme umschriebenen vergleichbar, dass eine schlagartige (oder jedenfalls massive) Änderung der Situation eingetreten ist und eine beabsichtigte Änderung der Rechtslage von den zuständigen Organen noch nicht umgesetzt worden ist. Eine Aussetzung der Dublin II-VO auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene hätte aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts schon unabhängig von Art. 16a Abs. 5 GG auch zur Folge, dass der Ausschlussgrund des Abs. 2 Satz 1 nicht einschlägig wäre.

Die Beklagte ist daher aufgrund der Ausnahmesituation verpflichtet, bei ihrer Ermessensentscheidung nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO trotz der normativen Vergewisserung die tatsächlichen Verhältnisse in Griechenland zu berücksichtigen. Aufgrund der weit überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger dort kein Asylverfahren unter Erfüllung der elementaren Lebensbedürfnisse wird durchführen können, ist das Ermessen auch auf Null reduziert, d.h. die Beklagte ist verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht zugunsten des Klägers Gebrauch zu machen. [...]