BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 18.12.2008 - 1 BvR 2604/06 - asyl.net: M16396
https://www.asyl.net/rsdb/M16396
Leitsatz:

Die EMRK (hier Art. 8) beeinflusst die Auslegung der Grundrechte, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (Fortführung der Rechtsprechung des BVerfG).

Wenn die Eltern als Sorgeberechtigte ausscheiden, sind vorrangig geeignete Verwandte oder Verschwägerte als Vormund zu bestellen. Sie dürfen nicht etwa deswegen übergangen werden, weil ein außenstehender Dritter noch besser dazu geeignet wäre. Auch eine Bestellung des Jugendamtes ist nur zulässig, wenn eine als Einzelvormund geeignete Person nicht vorhanden ist.

Schlagwörter: Schutz von Ehe und Familie, Achtung des Familienlebens, Vormundschaft, Großeltern, Enkel, Kindeswohl
Normen: EMRK Art. 8, GG Art. 6, BGB § 1697, BGB § 1779,
Auszüge:

[...]

2. Die Verfassungsbeschwerde ist - soweit sie zulässig ist - begründet.

Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts vom 20. Juli 2006 verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG und den Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG.

a) Die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen und die von ihnen im Einzeln vorgenommene Abwägung hat das Bundesverfassungsgericht nicht nachzuprüfen. Ebenso ist es grundsätzlich den Fachgerichten überlassen, welchen verfahrensrechtlichen Weg sie wählen, um zu den für ihre Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. BVerfGE 79, 51 62> ). Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 92 f.>). Die Intensität dieser Prüfung hängt davon ab, in welchem Maße von der Entscheidung Grundrechte beeinträchtigt werden (vgl. BVerfGE 83, 130 145> m.w.N.).

b) Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 GG den Staat verpflichtet, die aus Eltern und Kindern bestehende Familiengemeinschaft sowohl im immateriell-persönlichen wie auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich als eigenständig und selbstverantwortlich zu respektieren (vgl. BVerfGE 10, 59 83>; 13, 331 347>; 24, 119 135>; 28, 104 112> ). Ebenso hat es mehrfach klargestellt, dass Art. 6 Abs. 2 GG den Vorrang der Eltern bei der Verantwortung für das des Schutzes und der Hilfe bedürftige Kind garantiert (vgl. BVerfGE 24, 119 138> m.w.N.). Diese Verfassungsgrundsätze gebieten eine bevorzugte Berücksichtigung der Familienangehörigen bei der Auswahl von Pflegern und Vormündern, sofern keine Interessenkollision besteht oder der Zweck der Fürsorgemaßnahme aus anderen Gründen die Bestellung eines Dritten verlangt.

c) Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umfasst das Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK zumindest - auch - nahe Verwandte - zum Beispiel Großeltern und Enkel -, da sie innerhalb der Familie eine beachtliche Rolle spielen können. Die Achtung des so verstandenen Familienlebens begründet für den Staat die Verpflichtung, in einer Weise zu handeln, die die normale Entwicklung dieser Beziehung ermöglicht (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979, NJW 1979, S. 2449 2452>). Hieraus folgt, dass die Gerichte bei der Auswahl eines Vormunds bestehende Familienbande zwischen Großeltern und Enkeln zu beachten haben.

Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge. Die Konvention überlässt es den Vertragsparteien, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen (EGMR, Urteil vom 6. Februar 1976, Series A No. 20, Ziffer 50 - Swedish Engine Drivers Union; EGMR, Urteil vom 21. Februar 1986, Series A No. 98, Ziffer 84 - James u.a.; vgl. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 3. Aufl. 2002, S. 405; Ehlers, in: ders. <Hrsg.>, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 2 Rn. 2 f.). Der Bundesgesetzgeber hat den genannten Übereinkommen jeweils mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt (Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7. August 1952, BGBl II S. 685; die Konvention ist gemäß der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1953, BGBl 1954 II S. 14 am 3. September 1953 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten; Neubekanntmachung der Konvention in der Fassung des 11. Zusatzprotokolls in BGBl 2002 II S. 1054 ). Damit hat er sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle - soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind - im Range eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 370>; 82, 106 120>).

Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben. Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle sind in der deutschen Rechtsordnung aufgrund dieses Ranges in der Normenhierarchie kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). Ein Beschwerdeführer kann insofern vor dem Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechts mit einer Verfassungsbeschwerde rügen (vgl. BVerfGE 74, 102 128> m.w.N.; BVerfGK 3, 4 8>). Die Gewährleistungen der Konvention beeinflussen jedoch die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen, sofern dies nicht zu einer - von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) - Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 74, 358 370>; 83, 119 128> ; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2000 - 2 BvR 591/00 -, NJW 2001, S. 2245 2246 f.>).

d) Diesen Anforderungen genügt die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 20. Juli 2006 nicht.

aa) Das Amtsgericht hat der Mutter des Kindes D. bislang allein im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig die elterliche Sorge entzogen und diese damit auch nur vorläufig auf das Jugendamt als Vormund des Kindes D. übertragen.

Die Entscheidung über die Entziehung der elterlichen Sorge und Übertragung der Vormundschaft für ein Kind im Wege der einstweiligen Anordnung ist eine vorläufige Regelung. Es kann dahinstehen, ob und in welchem Maße hierbei berechtigte Interessen Dritter - etwa Verwandter - Berücksichtigung finden müssen. Diese sind jedenfalls in dem Verfahren über die endgültige Entziehung der elterlichen Sorge und der endgültigen Bestellung eines Vormunds bei der Auswahl des Vormunds für das Kind D. zu berücksichtigen.

bb) Gemäß § 1697 BGB kann das Familiengericht in dem Fall, dass aufgrund einer von ihm veranlassten Maßnahme eine Vormundschaft oder Pflegschaft anzuordnen ist, diese Anordnung treffen und den Vormund oder Pfleger auswählen. Soweit nichts anderes bestimmt ist, stehen diese Entscheidungen unter dem Vorbehalt des Kindeswohls sowie den berechtigten Interessen der Beteiligten, § 1697a BGB. Dabei hat das Familiengericht - wie auch das Vormundschaftsgericht - bei der Auswahl mehrerer geeigneter Personen u.a. den mutmaßlichen Willen der Eltern, die persönlichen Bindungen des Mündels und die Verwandtschaft oder Schwägerschaft mit dem Mündel zu beachten, § 1779 BGB.

Nach § 1779 Abs. 2 BGB soll das Vormundschaftsgericht eine Person auswählen, die nach ihren persönlichen Verhältnissen und ihrer Vermögenslage sowie den sonstigen Umständen zur Führung der Vormundschaft geeignet ist. Nach der Neufassung der Vorschrift aufgrund des Kindschaftsreformgesetzes vom 16. Dezember 1997 (BGBl I S. 2942) sind bei der Auswahl unter mehreren geeigneten Personen der mutmaßliche Wille der Eltern, die Verwandtschaft oder Schwägerschaft mit dem Kind sowie dessen religiöses Bekenntnis zu berücksichtigen. Vorschläge und Wünsche der Eltern sind demnach - jedenfalls dann - nicht bindend, wenn das Kindeswohl mit der Bestellung gefährdet wäre. Die vorzugsweise Berücksichtigung von Familienangehörigen und Verwandten des Kindes ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich geboten, sofern keine Interessenkollision besteht oder der Zweck der Fürsorgemaßnahme aus anderen Gründen die Bestellung eines Dritten verlangt (vgl. BVerfGE 33, 236 238 f.> ). Es gilt auch weithin als Selbstverständlichkeit, dass bei intakten Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen Kinder dann, wenn ihre Eltern aus welchen Gründen auch immer als Sorgeberechtigte ausscheiden, von Großeltern oder anderen nahen Verwandten aufgenommen und großgezogen werden, sofern deren Verhältnisse dies ermöglichen. Darin dokumentieren sich gewachsene Familienbeziehungen, Verbundenheit und Verantwortungsbewusstsein. Sind diese Verwandten zur Führung der Vormundschaft geeignet im Sinne von § 1779 Abs. 2 BGB, so dürfen sie nicht etwa deswegen übergangen werden, weil ein außenstehender Dritter noch besser dazu geeignet wäre, beispielsweise im Hinblick auf eine optimale geistige Förderung des Kindes.

Andere Personen kommen als Vormund nur in Betracht, wenn ein nach den aufgezeigten Grundsätzen geeigneter Verwandter oder Verschwägerter nicht vorhanden ist. Auch eine Bestellung des Jugendamtes gemäß § 1791b Abs. 1 BGB ist nur zulässig, wenn eine als Einzelvormund geeignete Person nicht vorhanden ist. [...]