VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2009 - 13 S 1469/09 - asyl.net: M16422
https://www.asyl.net/rsdb/M16422
Leitsatz:

1. Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt, dass im Rahmen des § 25 Abs. 3 i.V.m. § 60 Abs. 5 AufenthG - wie schon nach der früheren Rechtslage - nur zielstaatsbezogene Vollstreckungshindernisse zu berücksichtigen sind.

2. Abgelehnt nach § 30 Abs. 3 AsylVfG ist der Asylantrag nur dann, wenn die Einstufung als offensichtlich unbegründet auch tatsächlich tragend auf diese Vorschrift gestützt wurde.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, zielstaatsbezogenes Vollstreckungshindernis, offensichtlich unbegründet
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylVfG § 30 Abs. 3, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2, AsylVfG § 42
Auszüge:

[...]

1. Dem Kläger steht keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zu. Dies wird bereits in dem angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt. Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt, dass im Rahmen des § 25 Abs. 3 i. Verb. m. § 60 Abs. 5 AufenthG - wie schon nach der früheren Rechtslage - nur zielstaatsbezogene Vollstreckungshindernisse zu berücksichtigen sind. Die in § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in Bezug genommene Bestimmung des § 60 Abs. 5 AufenthG verweist nur insoweit auf die Europäische Menschenrechtskonvention, als sich aus ihr zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote ergeben. Hindernisse, die einer Vollstreckung der Ausreisepflicht entgegenstehen, weil andernfalls das Recht auf Achtung des Familien- oder Privatlebens im Sinne von Art. 8 EMRK verletzt würde, können hingegen nur zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG führen (vgl. OVG Koblenz, Beschluss vom 24.2.2006 - 7 B 10020/06 - InfAuslR 2006, 274; VGH Kassel, Beschluss vom 15.02.2006 - 7 TG 106/06 - NVwZ-RR 2006, 826; OVG Lüneburg, Beschluss vom 1.9.2006 - 8 LA 101/06 - juris Rn 3; ebenso Burr in: GK-AufenthG, § 25 Rn 34; Hailbronner, AuslR, § 60 Rn 145; vgl. zur früheren Rechtslage BVerwG, Urteil vom 11.11.1997 - 9 C 13.96 - juris Rn 8 ff. zu § 53 Abs. 4 AuslG; s. auch Senatsbeschlüsse vom 3.3.2009 - 13 S 3282/09 - und vom 23.2.2009 - 13 S 1974/08 -).

2. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf eine Neubescheidung seines Antrags auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. Verb. m. Art. 8 EMRK.

a) Es liegt kein Versagungsgrund nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vor. Nach dieser Vorschrift darf einem Ausländer vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden, wenn sein Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt wurde. Dies ist hier nicht der Fall.

aa. Schon der Bundesamtsbescheid vom 17.1.2007 ist nicht tragend auf § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylVfG gestützt, wonach ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, wenn ein Ausländer seine Mitwirkungspflichten gröblich verletzt. Zwar wird diese Vorschrift auf S. 4 des Bescheids zitiert. Hierbei handelt es sich aber offenbar lediglich um einen "Textbaustein", in dem die rechtlichen Vorgaben der Ablehnung als offensichtlich unbegründet allgemein dargelegt werden. Demgegenüber wird bei der Subsumtion des konkreten Einzelfalls des Klägers auf S. 5 ff. des Bescheids allein darauf abgestellt, dass die Voraussetzungen einer Asylanerkennung in der Sache offensichtlich nicht gegeben seien, und nicht darauf, dass er seine Mitwirkungspflichten gröblich verletzt habe. Wird der konkrete Einzelfall nicht unter eine bestimmte gesetzliche Vorschrift subsumiert, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ein Bescheid tragend auf diese Bestimmung gestützt werden sollte. Abgelehnt nach § 30 Abs. 3 AsylVfG ist der Asylantrag nur dann, wenn die Einstufung als offensichtlich unbegründet auch tatsächlich tragend auf diese Vorschrift gestützt wurde. [...]

b) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG liegen vor. Dem Kläger ist die Ausreise im Hinblick auf Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1 GG unmöglich. Sein am 2.10.2004 geborener Bruder ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wegen seiner schweren Nierenerkrankung ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG festgestellt hatte. Deshalb ist dem minderjährigen Bruder des Klägers und damit auch den Eltern des Klägers und diesem selbst die Ausreise in den Irak rechtlich nicht möglich.

Anders als die Beklagte zu meinen scheint, spielt es für die Frage, ob dem minderjährigen Kläger im Hinblick auf Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1 GG die alleinige Rückkehr in den Irak zumutbar ist, keine Rolle, welchen Aufenthaltsstatus die Eltern des Klägers haben. Es handelt sich hier auch nicht um einen Familiennachzug im eigentlichen Sinne, der durch § 29 Abs. 3 Sätze 1 und 3 AufenthG eingeschränkt bzw. für manche Fallgruppen sogar ganz ausgeschlossen ist. Im vorliegenden Fall erstrebt der minderjährige Kläger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, weil nach seiner Auffassung die familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen Eltern und seinem Bruder - für den wegen seiner schweren Nierenerkrankung ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG besteht - nur im Bundesgebiet gelebt werden kann, eine Ausreise deshalb für ihn unzumutbar sei und er daher die Voraussetzungen für die Erteilung eines humanitären Aufenthaltsrechts nach § 25 Abs. 5 AufenthG erfülle. Ein solcher Anspruch wird nicht durch § 29 Abs. 3 AufenthG gesperrt (ausführl. hierzu: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.4.2007 - 11 S 1035/06 - juris).

Bei der Prüfung der Frage, ob eine Ausreise eines Familienangehörigen aus rechtlichen Gründen unmöglich ist, ist davon auszugehen, dass ein genereller Anspruch auf Herstellung bzw. Aufrechterhaltung der Familieneinheit mit aus humanitären Gründen aufgenommenen Ausländern die Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland zur humanitären Aufnahme unvertretbar festlegen und einschränken würde. Nicht familiäre Bindungen allein, sondern alle Umstände, die eine humanitäre Dringlichkeit begründen, sollen für die Entscheidung maßgeblich sein, ob und wann welche Ausländer aus humanitären Gründen aufgenommen und ihnen der Aufenthalt im Bundesgebiet erlaubt werden soll. Die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung der Familieneinheit wird daher grundsätzlich nur für Personen zugelassen, die selbst die Voraussetzungen für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen erfüllen. Ein dringender humanitärer Grund kann insbesondere vorliegen, wenn die Familieneinheit auf absehbare Zeit nur im Bundesgebiet hergestellt werden kann (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 81; ausführl. hierzu: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.4.2007, a.a.O.). Dies ist bei der Familie des Klägers unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Eltern der Fall. Kann die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (Bay. VGH, Beschluss vom 22.7.2008 - 19 CE 08.781 - InfAuslR 2009, 158). Anhaltspunkte dafür, dass der Schutz der Familie hier weniger schwer als im Regelfall wiegt - etwa weil absehbar wäre, dass das Abschiebungsverbot alsbald entfällt, oder der Familie des Klägers die Ausreise in einen anderen Drittstaat möglich und zumutbar wäre - hat die Beklagte nicht vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich.

Diese Auslegung wird im Übrigen zu Recht jedenfalls in Bezug auf den Ehegatten und die minderjährigen Kinder eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG besitzt, auch in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009 (GMBl. 2009, 878) unter Nr. 29.3.1.1 vertreten: Sofern die Herstellung der Familieneinheit im Ausland aus zwingenden persönlichen Gründen unmöglich sei, sei stets ein dringender humanitärer Grund anzunehmen; bei Ausländern, die - wie der Bruder des Klägers - eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 bis 3 AufenthG besäßen, sei - außer in den Fällen des § 60 Absatz 4 - anzunehmen, dass die Herstellung der familiären Einheit im Herkunftsstaat unmöglich sei. Gleiches muss folgerichtig dann aber auch zugunsten der "Kernfamilie" gelten, wenn - wie hier - nicht ein Elternteil, sondern ein minderjähriges Kind wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG besitzt, denn auch in einem solchen Fall ist der gesamten Familie eine gemeinsame Rückkehr in den Herkunftsstaat unzumutbar und damit rechtlich unmöglich. [...]

Bei der Nachholung ihrer Ermessensausübung wird die Beklagte die Funktion des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen haben, wonach bei tatsächlich vorliegenden dauerhaften Abschiebungs- und Ausreisehindernissen an die Stelle der gesetzlich nicht vorgesehenen sog. Kettenduldungen nunmehr die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis als humanitäre, der notwendigen Integration des Ausländers dienende Maßnahme getreten ist, und daher im Falle eines humanitären Titels typischerweise nicht die Erfüllung aller Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG verlangt werden kann (siehe dazu Senatsurteil vom 3.12.2008 - 13 S 2483/07 - juris; Bay. VGH, Beschluss vom 22.7.2008 - 19 CE 08.781 - InfAuslR 2009, 158; Bäuerle in GK-AufenthG, § 5 Rn. 185 und Burr in GK-AufenthG § 25 Rn. 188 sowie Jakober/Welte, Aktuelles AuslR, § 5 Rn. 140). [...]