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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 08.02.2010 - 5378313-423 - asyl.net: M16653
https://www.asyl.net/rsdb/M16653
Leitsatz:

Selbsteintritt im Dublin-Verfahren und Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für einen jungen, kranken afghanischen Staatsangehörigen.

Schlagwörter: Afghanistan, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Selbsteintritt, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, EG VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller, afghanischer Staatsangehöriger vom Volk der Hazara, reiste am 10.06.2009 illegal in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 07.09.2009 seine Anerkennung als Asylberechtigter.

Zur Begründung des Asylantrages gab der Ausländer in seiner Anhörung am 09.11.2009 im Wesentlichen an, nie eine Schule besucht und nach dem frühen Tod seiner Eltern bereits als kleines Kind Afghanistan mit der Familie eines Onkels verlassen zu haben. Nach etwa 5 Jahren in Pakistan habe er ca. 8 Jahre im Iran gelebt, in Teheran. Nach Trennung von seinem Onkel und seiner Tante im Streit habe er sich zuletzt einer Teheraner Wohngemeinschaft mit anderen Jugendlichen angeschlossen und von Gelegenheitsjobs gelebt, ehe er wegen der belastenden illegalen Aufenthaltssituation dort auch den Iran verlassen habe und über Griechenland, Italien und Frankreich nach Deutschland gekommen sei. Hier lebe seit langem seine ältere Schwester. Ein ebenfalls älterer Bruder, den er kaum kenne, sei seinerzeit von einem anderen Onkel aufgenommen worden und lebe heute noch im Iran, aber in Isfahan. An eine Rückkehr nach Afghanistan habe er nie gedacht, da er niemanden dort kenne und es ein fremdes Land für ihn sei, von dem er nur wisse, dass die Menschen dort hungern und sterben.

Mit Schriftsatz seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 04.11.2009 wurde zudem auf mutmaßlich traumatisierende Erlebnisse sowohl innerhalb der Familie seines Onkels als auch seitens der iranischen Polizei verwiesen, über die er nicht sprechen könne. Er füge sich immer wieder selbst Verletzungen zu, die hier bereits einen Krankenhausaufenthalt erforderlich gemacht hätten. In einer nachgereichten Psychologischen Stellungnahme des DRK Saarland vom 27.11.2009 sowie einem fachärztlichen Attest vom 09.12.2009 wird der Verdacht auf Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit suizidalen Tendenzen geäußert.

Vor diesem Hintergrund machte die Bundesrepublik Deutschland mit Erklärung vom 22.12.2009 von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch. [...]

Es liegt indessen ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Afghanistan vor.

Von einer Abschiebung soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dem Ausländer eine erhebliche individuelle und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht, wobei es hier nicht darauf ankommt, von wem die Gefahr ausgeht und wodurch sie hervorgerufen wird. Es muss jedoch über die Gefahren hinaus, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, eine besondere Fallkonstellation gegeben sein, die als gravierende Beeinträchtigung die Schwelle der allgemeinen Gefährdung deutlich übersteigt (vgl. die insoweit auf § 60 Abs. 7 AufenthG übertragbaren Entscheidungen BVerwG, Urteile vom 29.11.1977, BVerwGE 55, 82; vom 17.01.1989, EZAR 201 Nr. 19; vom 30.10.1990, BVerwGE 87, 52; vom 17.10.1995, BVerwGE 99.324, und vom 23.08.1996, 9 C 144.95). [...]

Die medizinische Versorgung ist in Afghanistan aufgrund fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte und mangels ausgebildeten Hilfspersonals - trotz mancher Verbesserungen - völlig unzureichend. Auch in Kabul, wo mehr Krankenhäuser als im übrigen Afghanistan angesiedelt sind, ist für die afghanische Bevölkerung noch keine hinreichende medizinische Versorgung gegeben. Staatliche soziale Sicherungssysteme sind nicht bekannt. Familien und Stämme übernehmen die soziale Absicherung (vgl. etwa Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 28.10.2009, Az.: 508-516.80/3 AFG).

Die Versorgung mit Wohnraum ist nach übereinstimmenden Auskünften ungenügend. Das Angebot an Wohnraum ist knapp und nur zu hohen Preisen erhältlich. Für die Reintegration der nach Afghanistan zurückkehrenden Flüchtlinge ist das Ministerium für Flüchtlinge zusammen mit einigen anderen Ministerien verantwortlich. UNHCR (und z.T. IOM) leisten über ihre Rückkehrerprogramme Hilfe und sind bemüht, die afghanische Regierung zu unterstützen. Die Regierung beabsichtigt, Rückkehrer, die nicht bei Familienangehörigen unterkommen können, in Neubausiedlungen (sog. "townships") unterzubringen. Diese sind jedoch aufgrund fehlender Infrastruktur oder ihrer Lage in abgelegenen Gebieten häufig nicht für eine permanente Ansiedlung geeignet (vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 28.10.2009, Az.: 508-516.80/3 AFG).

Aus den vorliegenden Erkenntnissen folgt, dass es Bevölkerungsteile gibt, die Schwierigkeiten bei der Versorgung haben. Es gibt zwar einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung, insbesondere in Kabul, an dem aber nicht alle Bewohner gleichermaßen teilhaben. Insbesondere mittellose Rückkehrer müssen häufig ein Leben am Rande des Existenzminimums führen.

Anzeichen für eine derart schlechte Versorgung, dass jeder Rückkehrer alsbald einer extremen Gefahr i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausgesetzt wäre, gibt es aber nicht.

Im Hinblick auf die persönliche Lebenssituation des Antragstellers muss im konkreten Fall allerdings eine besondere Bewertung erfolgen.

Denn dieser ist noch ausgesprochen jung und hat nach seinen insoweit nicht in Zweifel zu ziehenden Angaben von früher Kindheit an nicht mehr in Afghanistan gelebt. Er ist außerdem offenbar behandlungsbedürftig krank. In Kabul kann er auch nicht auf ein ihn stützendes soziales Netz zurückgreifen. Er würde allein schon ohne Schulbildung und adäquate berufliche Qualifikation, zumal als Angehöriger der in Afghanistan verbreitet geächteten Volksgruppe der Hazara, angesichts der selbst dort bereits allgemein, wie aufgezeigt, angespannten Sicherheits- und Versorgungssituation alsbald in eine aussichtslose Lage geraten. Er gehört damit zu einem Personenkreis, der aufgrund seiner individuellen Situation als überdurchschnittlich verletzlich anzusehen und deshalb besonders schutzbedürftig ist (vgl. etwa UNHCR: Update an the Situation in Afghanistan and International Protection Consideration vom Juni 2005; ders.: Humanitäre Erwägungen im Zusammenhang mit der Rückkehr nach Afghanistan, 00.01.2008; aktuell insbes. auch OVG Schleswig, Urteil vom 10.12.2008, Az.: 2 LB 23/08; VGH Baden Württemberg, Urteil vom 09.06.2009, Az.: A 11 S 611/08; Hessischer VGH, Urteil vom 26.11.2009, Az.: 8 A 1862/07.A; jeweils m.w.N.). [...]