OLG Köln

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Zitieren als:
OLG Köln, Beschluss vom 07.12.2009 - 6 AuslA 161/09 - asyl.net: M16724
https://www.asyl.net/rsdb/M16724
Leitsatz:

Zur Unverhältnismäßigkeit von Auslieferungshaft. Eine Auslieferung des in Belgien als GFK-Flüchtling anerkannten Verfolgten in die Türkei erscheint unzulässig (Verfolgungsverjährung in Deutschland, in der Türkei unter Folter erhaltene Beschuldigungen gegen den Verfolgten).

Schlagwörter: Auslieferung, Auslieferungshaft, Türkei, Europäisches Auslieferungsübereinkommen, Verfolgungsverjährung, Europäisches Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus
Normen: IRG § 16 Abs. 1, IRG § 15 Abs. 2, EuAlÜbK Art. 10, IRG § 6 Abs. 2, EuAlÜbK Art. 3 Abs. 2, EuTerrÜbK Art. 1, GFK Art. 1 F, IRG § 73, IRG § 10 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Dem Antrag auf Erlaß eines Auslieferungshaftbefehls nach § 16 IRG kann nicht entsprochen werden.

Nach §§ 16 Abs. 1, 15 Abs. 2 IRG kann vorläufige Auslieferungshaft nicht angeordnet werden, wenn die Auslieferung von vorneherein unzulässig erscheint. Bei verfassungskonformer Auslegung von § 15 Abs. 2 IRG kommt eine Auslieferungshaft nur in Betracht, wenn aufgrund einer Schlüssigkeitsprüfung ohne weiteres festgestellt werden kann, dass die Voraussetzungen für eine Auslieferung gegeben sein können Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl., § 15 Randnr. 31).

Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Auslieferung des Verfolgten wegen Bestehens von Verfolgungshindernissen nicht zulässig sein wird.

1. Der Auslieferungsverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei richtet sich nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen - EuAlÜbK – vom 13.12.1957.

Nach Art. 10 EuAlÜbK wird die Auslieferung nicht bewilligt, wenn nach den Rechtsvorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates die Strafverfolgung verjährt ist.

Hinsichtlich des von den türkischen erhobenen Vorwurfs der Bildung bzw. Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung ist nach deutschem Recht Verfolgungsverjährung eingetreten. Für Straftaten nach § 129 b Abs. 1 in Verb. mit § 129 a Abs. 1 StGB, die mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von 10 Jahren bedroht sind, beträgt die Verjährungsfrist nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB 10 Jahre. Nach § 78a S.1 StGB beginnt die Verjährung ab Beendigung der Tat. Als maßgeblicher Zeitpunkt ist insoweit der 30.01.1991 (= Datum des dem Verfolgten zur Last gelegten Tötungsdelikts) anzusehen. Für strafrechtlich relevantes Handeln des am 17.03.1991 festgenommenen Verfolgten nach diesem Zeitpunkt ist der Ausschreibung der türkischen Behörden nichts zu entnehmen. Ausgehend davon, dass durch den Haftbefehl vom 06.11.1991 die Verjährung gem. § 78 c Abs. 1 Ziff. 5 StGB die Verjährung unterbrochen worden sein kann und gem. Abs. 4 S.1 danach von Neuem begonnen hat, ist hinsichtlich des Vorwurfs der Bildung bzw. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung spätestens zum 06.11.2001 Verjährung eingetreten. Durch den Erlaß des neuen Haftbefehls im Jahre 2006 konnte die bereits eingetretene Verjährung nicht mehr unterbrochen werden. Für andere verjährungsunterbrechende Maßnahmen gem. § 78 c StGB ist nichts ersichtlich.

2 a) Im übrigen ist für die nach § 15 Abs. 2 IRG zu treffende "Unzulässigkeitsprognose" maßgeblich, dass der Verfolgte – dessen Auslieferung bereits im Jahre 1999 abgelehnt worden war - in Belgien durch Beschluss des Conseil d'Etat in Brüssel vom 20.06.2005 – Aktenzeichen A.118.469/4872 – in letzter Instanz als Flüchtling anerkannt und dem Schutz der Genfer Konvention unterstellt worden ist. Dem lag nach der dem Senat vorliegenden Entscheidung die Feststellung zugrunde, dass dem Verfolgten im Herkunftsstaat politische Verfolgung i.S. des Art. 1 Sec. A Ziff. 2 der Genfer Konvention drohe und kein Ausschlussgrund für die Asylgewährung nach Art. 1 Sec. F gegeben sei.

Daraus ergibt sich ein Auslieferungshindernis nach § 6 Abs. 2 IRG und Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbK. In § 6 Abs. 2 IRG ist ein von § 6 Abs. 1 IRG unabhängiges Auslieferungshindernis normiert, so dass es nicht darauf ankommt, ob eine politische Tat bzw. Zusammenhangstat im Sinne des Abs. 1 vorliegt (Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner a.a.O., § 6 Randnr. 40).

b) Eine Einschränkung des Auslieferungsschutzes des Verfolgten vor politischer Verfolgung ergibt sich nicht aus dem Europäischen Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27.01.1977 – EuTerrÜbK -, zu dessen Zeichnerstaaten sowohl Deutschland als auch die Türkei gehören. Die dem Verfolgten zur Last gelegten Tötungsdelikte lassen sich nach der – sehr knapp gehaltenen – Darstellung in der Fahndungsausschreibung nicht unter die in Art. 1 EuTerrÜbK aufgeführten Straftaten subsumieren. Insbesondere fällt die Verwendung einer Schußwaffe nur unter Art. 1 lit. e), wenn es sich um eine automatische Schußwaffe handelt, wofür es im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte gibt.

c) Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist grundsätzlich von der Vermutung auszugehen, dass der anerkennende Staat eine Asylberechtigung nach sorgfältiger Prüfung bejaht und den Flüchtling dem Schutz der Genfer Konvention unterstellt hat (BVerfG, Beschluß des 1. Senats vom 14.11.1979 – 1 BvR 654/79 –; ebenso Senat Beschluss vom 15.08.2008 – 6 AuslA 78/08 – ; OLG Karlsruhe StV 2004, 445; StV 2007,652; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O. § 15 Randnr.32 ).

Von einer sorgfältigen Prüfung der Asylberechtigung des Verfolgten ist hier uneingeschränkt auszugehen. Der Fall ist durch die belgischen Behörden in insgesamt drei Instanzen untersucht worden. Nachdem der "Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides" die Anerkennung als Flüchtling mit Entscheid vom 27.12.2000 zunächst verweigert hatte, ist dem Verfolgten dieser Status durch Beschluss der "Commission permanente de recours des réfugiés" vom 25.01.2002 zuerkannt worden; das dagegen vom belgischen Staat eingelegte Rechtsmittel hat der Conseil d'Etat letztinstanzlich mit Beschluss vom 20.06.2005 verworfen. Die umfangreich begründeten Entscheidungen vom 25.01.2002 und vom 20.06.2005 beruhen erkennbar auf sorgfältiger Prüfung des Sachverhalts, zu dem sich der Verfolgte in öffentlichen Anhörungen vom 07.12.2001 und 25.01.2002 auch persönlich äußern konnte.

Die Anerkennungsentscheidung begründet mithin die Vermutung für tatsächlich zu befürchtende politische Verfolgung.

d) Der Vermutung ernsthaft drohender politischer Verfolgung wird durch den Erwerb der Staatsangehörigkeit des Staates, in dem dem Verfolgten zuvor Schutz nach der Genfer Konvention gewährt worden ist, nicht der Boden entzogen.

Die Einbürgerung hat zwar zur Folge, dass der Verfolgte nach Art. I Sec. C Ziff. 2 der Genfer Konvention formell nicht mehr unter den Schutz der Konvention fällt. Dieser Schutz gilt jedoch fort.

Die aktuelle Verfolgungslage spricht nicht dafür, dass dem Verfolgten – etwa nach Art. I Sec. C Ziff.5 der Genfer Konvention wegen Wegfalls der Umstände, die zur Anerkennung als Flüchtling geführt haben – die Flüchtlingseigenschaft aberkannt worden wäre, wenn er nicht eingebürgert worden wäre.

Zwar hat der türkische Staat im Rahmen des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union Anfang der 2000-er Jahre Bemühungen zur Stärkung der Menschenrechte unternommen und entsprechende Gesetze - namentlich zur Eindämmung von Folter oder sonst unverhältnismäßiger Polizeigewalt - verabschiedet. Nach dem aktuellen Länderbericht von Amnesty international Deutschland – Stand: Mai 2009 – ist der Reformprozeß seit Mitte 2005 aber wieder erlahmt. Seither haben Berichte über Folter und Mißhandlungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte insbesondere politisch mißliebiger Personen wieder zugenommen. Nach einer Erklärung des türkischen Justizministeriums vom August 2008 sind in den Jahren 2006 und 2007 von mehr als 4700 Bürgern Beschwerden wegen Mißhandlung und Folter durch Sicherheitsbeamte eingereicht worden.

Diese aus jüngster Zeit stammenden Erkenntnisse relativieren die Einschätzung im 8. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, der den Zeitraum von März 2005 bis Februar 2008 umfaßt, in dem der Türkei Fortschritte bei der Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR bescheinigt werden und die positive Wirkung der "Null-Toleranz-Politik" der türkischen Regierung gegenüber Folter hervorgehoben wird. Andererseits geht aber auch dieser Bericht davon aus, dass weiterhin Fälle von Folter und Mißhandlung vorkommen und dass insbesondere bei der Strafverfolgung noch Defizite bestehen. Mangelnde Reformschritte im Jahre 2007 kritisiert im übrigen auch der Bericht der EU-Kommission "über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt".

Die Bedenken gegen eine menschenrechtskonforme Behandlung greifen im Falle des Verfolgten, weil die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht dem Bereich allgemeiner Kriminalität zuzurechnen sind, sondern im Zusammenhang mit seiner politischen Betätigung stehen, und außerdem damit zu rechnen ist, dass er im Falle seiner Auslieferung zunächst in Polizeigewahrsam käme, wo nach den dargestellten Erkenntnissen Mißhandlungen oder sonstige Repressalien nicht auszuschließen sind. [...]

b) Es bestehen nach den Feststellungen der belgischen Behörden zudem ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass die Beschuldigungen gegen den Verfolgten auf erfolterten Zeugenaussagen beruhen. Deren Verwendung in einem Strafverfahren würde gegen fundamentale Rechtsstaatsprinzipien verstoßen und zur Unzulässigkeit der Leistung von Rechtshilfe nach § 73 IRG führen.

c) Etwaige Einwendungen der türkischen Behörden gegen die Annahme politischer Verfolgung des Verfolgten könnten nur in einem langwierigen Verfahren geklärt werden. Können Zweifel an der Zulässigkeit der Auslieferung nicht innerhalb angemessener Zeit ausgeräumt werden, steht auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Auslieferungshaft entgegen; das gilt auch bei schwerwiegenden Straftaten.

Konkret müßten die belgischen Behörden um Überlassung der Dossiers gebeten werden, die Grundlage der Ablehnung der Auslieferung und der Anerkennung als Flüchtling gewesen sind. Zu den – ggfs. nach Übersetzung ins Deutsche - daraus gewonnenen Erkenntnissen wäre ggfs. den türkischen Behörden Gelegenheit zur Äußerung zu geben.

Überdies können die Feststellungen der belgischen Behörden zu erfolterten Zeugenaussagen nach § 10 Abs. 2 IRG Anlaß zur Prüfung des Tatverdachts geben.

Es ist bereits jetzt abzusehen, dass dafür eine erhebliche Zeit benötigt würde, die eine Auslieferungshaft von vornherein als unverhältnismäßig erscheinen läßt. [...]