VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 11.03.2010 - 7 K 1437/09.WI.A - asyl.net: M16768
https://www.asyl.net/rsdb/M16768
Leitsatz:

Kein Widerruf subsidiären Schutzes, da die Familie des Klägers, der seit seinem zweiten Lebensjahr ganz überwiegend in Deutschland lebt, in Afghanistan als nicht religiös und kommunistisch bekannt ist.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, Widerruf, Widerrufsverfahren, nichtstaatliche Verfolgung, Kommunisten, Beweiserleichterung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 5
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 AufenthG liegen hier vor. Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Umgesetzt wird hiermit Art. 15 Buchs. b der Qualifikationsrichtlinie, der sich seinerseits an dem Wortlaut und Inhalt des Refoulementverbotes des Art. 3 EMRK orientiert. Geht wie hier die Gefahr der Folter oder unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung von afghanischen Mudjaheddin aus, kann es sich auch um eine beachtliche, von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des Art. 6 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie ausgehende Gefahr handeln. Vorliegend ist eine ausreichende Wahrscheinlichkeit für eine solche Gefahr im Sinne eines ernsthaften Risikos festzustellen. Der Prüfungsmaßstab ergibt sich aus Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie. Danach ist die Tatsache, dass ein Kläger bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist. Eine erlittene oder unmittelbar bevorstehende Verfolgung in diesem Sinne kann in der Person des Klägers wie für seine gesamte Familie festgestellt werden. Ein ernsthaftes Risiko, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Seiten der Mudjaheddin bzw. nunmehr der Taliban bei einer Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt zu sein, ist deshalb erkennbar, weil davon auszugehen ist, dass seine Familie in diesen Kreisen weiterhin als kommunistisch und nicht religiös bekannt ist. Der Kläger würde insofern zum Ziel von derartigen Übergriffen werden. Weil er weder die arabische Schriftsprache noch aktiv die Sprache Paschtu beherrscht, mit den Verhältnissen in Afghanistan in keiner Weise vertraut ist - er lebt seit seinem zweiten Lebensjahr ganz überwiegend in der Bundesrepublik Deutschland - und keinen familiären Rückhalt in Afghanistan hat, wäre er diesen Übergriffen schutz- und wehrlos ausgesetzt. Es würde zur Überzeugung des Gerichts vorliegend für den Kläger wegen der fortbestehenden politischen Einschätzung seiner Familie geradezu mit Sicherheit, jedenfalls aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine lebensbedrohliche Situation bei einer Rückkehr in ganz Afghanistan und nicht nur in seiner Heimatregion entstehen (vgl. zur Situation lediger junger Männer aus Afghanistan, die ihr Heimatland im Kindesalter unter besonderen Umständen verlassen haben und nicht auf ein funktionierendes soziales Netzwerk in Afghanistan zurückgreifen können: Hess. VGH, Urteil vom 26.11.2009 - 8 A 1862/07.A). [...]