VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 07.01.2010 - 2 K 573/07.A - asyl.net: M16825
https://www.asyl.net/rsdb/M16825
Leitsatz:

Zur "Konkretheit" der Gefahr bei drohender Zwangsehe und zur medizinischen Behandelbarkeit in der Türkei.

Schlagwörter: Asylverfahren, Türkei, Asylfolgeantrag, Zwangsehe, Abschiebungsverbot, Ehrverletzung, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Yesil Kart, Suizidgefahr, Reisefähigkeit, Existenzgrundlage, nichtstaatliche Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

4. Eine Ermessensreduzierung auf Null kann hier jedoch schon deswegen nicht angenommen werden, weil im Falle der Kläger zu 1. bis 5. keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu bejahen ist. Eine entsprechende Gefahr für ihre Freiheit besteht ohnehin nicht und ist von den Klägern auch nicht vorgetragen worden.

4.1 Die geltend gemachte erhebliche Gefährdung von Leib und Leben der Klägerin zu 1. durch ihren Ehemann ist nicht hinreichend konkret.

4.1.1 Dabei geht das Gericht davon aus, dass er bei seinem letzten Aufenthalt in Bremen im Jahre 2004 die Klägerin zu 1. wegen ihrer ablehnenden Haltung zur Zwangsverheiratung geschlagen und in der Folgezeit von der Türkei aus telefonisch Drohungen gegen sie ausgesprochen hatte. Ebenso unterstellt das Gericht den Inhalt der eidesstattlichen Versicherung von Frau ... vom 20.12.2006 über ein Telefonat des Ehemannes der Klägerin zu 1. mit ihr am 23.10.2006 als richtig. Danach habe der Ehemann seine Tochter ... an einen Verwandten versprochen und auch Brautgeld erhalten. Deswegen habe er mit allen Mitteln zu erreichen versucht, dass seine Frau und seine Tochter ... in die Türkei kommen, damit die Tochter den Verwandten heiratet. In dem Telefonat mit Frau ... habe er schließlich geschworen, seine Frau und seine Tochter ... umzubringen, weil beide eine Schande für ihn und seine Ehre darstellten, weil sie in der hiesigen Gesellschaft integriert seien und die deutsche Mentalität übernommen hätten.

Nach der glaubhaften Darstellung der Klägerseite in der mündlichen Verhandlung am 07.01.2010 hatte der Ehemann schließlich im Jahre 2007 der Tochter ... telefonisch mitgeteilt, dass er seine Ehefrau töten werde, wenn sie das Scheidungsverfahren weiterführe. Die Klägerin zu 1. hatte zuvor in Deutschland ein Scheidungsverfahren gegen ihren Mann eingeleitet, im Scheidungstermin am 23.10.2007 den Scheidungsantrag wegen der Bedrohung durch den Ehemann aber zurückgenommen. [...]

4.1.2 Im Falle der Klägerin zu 1. bietet aber die bisherige Entwicklung des Konfliktes mit ihrem Ehemann keinen Anlass, die Gefahr einer konkreten Umsetzung seiner Tötungsandrohungen anzunehmen.

Es fällt auf, dass die Eheleute schon seit mehr als einem Jahrzehnt weitgehend getrennte Wege gehen. [...]

Waren die Ehebeziehungen aber ohnehin schon gelockert, relativiert sich auch die Bedeutung der "Ehrverletzung" des Ehemannes wegen der verweigerten Zustimmung der Klägerin zu 1. zur geplanten Zwangsverheiratung der Tochter ... Denn bei den Absichten von ... dürfte weniger die Aufrechterhaltung einer – ohnehin schon nicht mehr gegebenen - intakten Familieneinheit als vielmehr sein materielles Interesse an dem Brautgeld für die Tochter ... im Vordergrund gestanden haben.

Bemerkenswert ist ferner, dass der Zwist wegen der Zwangsverheiratung der Klägerin zu 4. nun schon seit sieben oder sechs Jahren anhält, ohne dass der Ehemann seitdem wieder in Bremen bei seiner Familie aufgetaucht ist. Auch wenn seine Familie in Bremen umgezogen ist, ist es für ihn nicht unmöglich, sie bei einem Aufenthalt in Bremen wiederzufinden. Er war auch in der Lage, die gemeinsame Bekannte ... im Jahre 2006 oder die Klägerin zu 4. noch im Jahre 2007 anzurufen. Anstrengungen, sich durch persönliche Anwesenheit mit seinem Willen gegenüber seiner Ehefrau und seiner Tochter ... durchzusetzen, hat ... ersichtlich nicht unternommen. Er hat es bei üblen telefonischen Bedrohungen belassen, um seine Ehefrau und die Tochter ... einzuschüchtern und sie auf diese Weise seinem Willen zu unterwerfen. Das ist ihm im Hinblick auf den zurückgenommenen Scheidungsantrag der Klägerin zu 1. auch gelungen. Zugleich signalisiert die Rücknahme des Scheidungsbegehrens auch ein Entgegenkommen seiner Ehefrau ihm gegenüber, was im Hinblick auf die angespannte Situation innerhalb der Familie durchaus deeskalierenden Charakter hat. [...]

4.1.3 Schließlich stellt sich die Situation bei einem Aufenthalt der Klägerin zu 1. in der Türkei im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit ihrem Ehemann dort prinzipiell nicht anders dar als in Deutschland. Die Türkisch sprechende Klägerin zu 1. kann in Landesteilen der Türkei im Westen oder Norden leben, die räumlich weit entfernt sind von dem Bereich an der Grenze zu Syrien, wo sich ihr Ehemann derzeit aufhält. [...]

6. Schließlich ist auch wegen der psychischen Erkrankung der Klägerin zu 1., die erstmals in der mündlichen Verhandlung am 07.01.2010 geltend gemacht wurde, kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für sie zu bejahen.

6.1 Eine Erheblichkeit krankheitsbedingter Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nur vor, wenn sich der Gesundheitszustand eines Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Diese Gefahr wäre konkret, wenn der Ausländer alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat in diese Lage geriete, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (so ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 25.11.1997 - 9 C 58/96 in BVerwGE 105, 383).

Dabei ist zu beachten, dass eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung einer Krankheit anzunehmen ist, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen und/oder existenzbedrohenden Zuständen, kurz existenziellen Gesundheitsgefahren (OVG Münster, Beschluss v. 16.12.2004 - 13 A 4512/03.A). [...]

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung der Kammer, dass grundsätzlich sämtliche Krankheiten in der Türkei behandelt werden können (vgl. zuletzt VG Bremen, Urteil vom 05.11.2009 – 2 K 1462/07.A). Das betrifft auch alle psychischen Erkrankungen (vgl. VG Bremen, Urteil vom 17.07.2008 – 2 K 369/07.A).

Die aktuelle Berichtslage bestätigt diese Einschätzung. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.06.2009 garantiert das Gesundheitswesen der Türkei auch psychisch kranken Menschen umfassenden Zugang zu Gesundheitsdiensten und Beratungsstellen. Das staatliche Gesundheitssystem gewährleistet eine medizinische Grundversorgung. Daneben gibt es mehr und mehr leistungsfähige private Gesundheitseinrichtungen, die in jeglicher Hinsicht EU-Standards entsprechen. Auch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert. Zwar gibt es noch Versorgungsdefizite vor allem in den ländlichen Provinzen, doch besteht die Möglichkeit, Patienten in Behandlungszentren der nächstgelegenen größeren Städte zu überweisen. Sämtliche erforderliche Medikamente können auch in der Türkei besorgt werden. [...]

6.2 Es ist davon auszugehen, dass der finanzielle Aufwand für eine gegebenenfalls erforderliche medizinische Behandlung in der Türkei angesichts der dort deutlich geringeren Kosten aufgebracht werden kann.

6.2.1 Im Übrigen gibt es für Mittellose in der Türkei das System der Yesil Kart ("Grüne Karte"). Bedürftige haben das Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung eine Yesil Kart ausstellen zu lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. [...]

6.2.2 Selbst wenn die im Falle der Klägerin zu 1. erforderlichen Kosten für ihre Behandlung nicht von ihren Familienagehörigen übernommen werden könnten und auch nicht von der Yesil Kart oder gegebenenfalls vom örtlichen Solidaritätsfonds gedeckt wären und dadurch in absehbarer Zeit eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin zu 1. eintreten würde - wofür allerdings nach der derzeitigen Sachlage keine überzeugenden Anhaltspunkte bestehen - liegt kein Fall des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Denn eine Gesundheitsverschlechterung wäre dann bei an sich möglicher medizinischer Versorgung in der Türkei eine Konsequenz der unzureichenden Leistungsfähigkeit des türkischen Gesundheits- und Sozialsystems (VG Bremen, Urt. v. 17.07.2008 – 2 K 369/07.A). [...]