OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.02.2010 - 18 B 1591/09 - asyl.net: M16858
https://www.asyl.net/rsdb/M16858
Leitsatz:

1. Keine Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung wegen Identitätstäuschung, § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AufenthG.

2. Auch für die minderjährigen Kinder kein Aufenthaltsrecht nach Art. 8 EMRK. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass für Kinder bis zwölf Jahren die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung nicht allein aus ihrem langjährigen Aufenthalt in Deutschland und ihrer Integration in die hiesigen Verhältnisse abgeleitet werden kann. Den 14- bzw. 13-Jährigen Antragstellern zu 3. und 4., die nach neunjährigem Aufenthalt in Deutschland gut integriert sind, ist eine Rückkehr nach Syrien zumutbar, auch wenn sie nur kurdisch und nicht arabisch sprechen und ihren in Deutschland erfolgreichen Schulbesuch zunächst in Syrien nicht fortsetzen können. Zu ihren Lasten ist von erheblicher Bedeutung, dass sie zu keinem Zeitpunkt im Besitz eines Aufenthaltstitels waren und somit keine berechtigte Erwartung haben konnten, in Deutschland bleiben zu dürfen. Das Verhalten der Eltern ist ihnen zuzurechnen.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis auf Probe, Altfallregelung, Bleiberecht, Täuschung über Identität, Syrien, Kinder, Passbeschaffung, Achtung des Privatlebens, Integration, Verhältnismäßigkeit, Kurden
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat einen Anspruch der Antragsteller auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu Recht verneint. Der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach dieser Vorschrift steht entgegen, dass die Antragsteller zu 1. und 2. die Ausländerbehörde vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht haben (vgl. § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Die Täuschungshandlungen der Antragsteller zu 1. und 2. ist den Antragstellern zu 3. bis 6. als deren minderjährigen Kindern zuzurechnen.

Ohne die Identitätstäuschung wären aufenthaltsbeendende Maßnahmen möglich gewesen. Es spricht alles dafür, dass die Antragsteller Reisepässe erhalten hätten, wenn sie sich unter Angabe ihrer wahren Personalien bei den syrischen Behörden hierum bemüht hätten. Die Botschaft der Syrischen Arabischen Republik in Berlin hat jedenfalls in den Jahren 2000 bis 2006 kontinuierlich Pässe und Passpapiere für syrische Staatsangehörige ausgestellt (Auskunft des Auswärtigen Amts vom 27. November 2009 an das OVG NRW, Gz. 508 515.00 SYR).

Auch die Antragsteller haben Anfang 2009 offenbar ohne Schwierigkeiten Reisepässe erhalten.

Eine Abschiebung der Antragsteller ist nicht im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich.

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass einer Ausreise bzw. Abschiebung der Antragsteller zu 3. bis 6. nicht das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Privat- und Familienleben entgegensteht. Das Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist weit zu verstehen und umfasst seinem Schutzbereich nach unter anderem das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln (vgl. EGMR (Große Kammer), Urteil vom 13. Februar 2003 42326/98 , NJW 2003, 2145; OVG NRW, Beschluss vom 21. Juli 2005 19 B 939/05) und damit auch die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts gewachsenen Bindungen. In dieses Recht kann nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eingegriffen werden. Die danach gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. hierzu und zu den nach der Rechtsprechung des EGMR beachtlichen Kriterien BVerfG, Beschluss vom 1. März 2004 2 BvR 1570/03 , EuGRZ 2004, 317, 319 f. = InfAuslR 2004, 280, 282 f.; BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 1 C 8.96 , InfAuslR 1999, 54) ergibt jedoch nicht, dass die Abschiebung der Antragsteller zu 3. bis 6. unverhältnismäßig ist.

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zu ermitteln, ob dem Ausländer wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben im Land seiner Staatsangehörigkeit nicht zugemutet werden kann. Dabei ist seine Rechtsposition gegen das Recht der Bundesrepublik Deutschland auf Einwanderungskontrolle – insbesondere der Aufrechterhaltung der Ordnung im Fremdenwesen – in einer Weise abzuwägen, dass ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen gewahrt ist. Insoweit sind als Gesichtspunkte die wirtschaftliche und soziale Integration des Ausländers, sein rechtlicher Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland, seine Kenntnisse der deutschen Sprache und seine persönliche Befähigung von Bedeutung. Auf der anderen Seite ist zu fragen, inwieweit der Ausländer – wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland – von dem Land seiner Staatsangehörigkeit entwurzelt ist (OVG NRW, Beschlüsse vom 20. August 2008 17 B 1035/08 und vom 8. Dezember 2006 18 A 2644/06 , AuAS 2007, 87).

Soweit minderjährige Kinder betroffen sind, ist zu berücksichtigen, dass ihr rechtliches und tatsächliches Schicksal rechtlich weitgehend an das ihrer Eltern und deren Entscheidungen angebunden ist: Ihre Eltern sind für minderjährige Kinder sorgeberechtigt und haben auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht inne. Kinder im Alter unter 16 Jahren sind gemäß § 80 Abs. 1 AufenthG auch ausländerrechtlich noch nicht handlungsfähig, und ihnen kann noch kein eigenständiges Aufenthaltsrecht gemäß § 35 AufenthG gewährt werden. Dementsprechend ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, dass für Kinder bis zwölf Jahre die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung nicht allein aus ihrem langjährigen Aufenthalt in Deutschland und ihrer Integration in die hiesigen Verhältnisse abgeleitet werden kann (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. Januar 2006 18 B 44/06 , EZAR NF 51 Nr. 12).

Hiernach steht Art. 8 Abs. 1 EMRK einer Beendigung des Aufenthalts der 1998 bzw. 1999 geborenen Antragsteller zu 5. und 6. nicht entgegen.

Aber auch bei älteren Kindern kommt der gesetzlichen Wertung, dass sie grundsätzlich das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer erziehungsberechtigten Eltern teilen, erhebliche Bedeutung zu. Gerade in Fällen, in denen die Eltern keine besonderen Integrationsleistungen erbracht haben bzw. ihnen eine Rückkehr ohne weiteres zumutbar ist, sind erhebliche einwanderungspolitische Interessen berührt, wenn das minderjährige Kind seinen nicht oder nur unzulänglich integrierten Eltern ein Aufenthaltsrecht verschaffen würde mit der Folge, dass im Ergebnis die Eltern wegen des Schutzes der familiären Lebensgemeinschaft durch Art. 6 Abs. 1 GG das aufenthaltsrechtliche Schicksal des Kindes teilen würden und nicht umgekehrt. Diesen einwanderungspolitischen Interessen kommt bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung, ob dem Kind eine Ausreise mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK zugemutet werden kann, erhebliches Gewicht zu. Weil die Kinder auf die familien- und sorgerechtlich zu erbringenden Erziehungs- und Hilfeleistungen ihrer Eltern angewiesen sind, ist bei der Beurteilung, ob den Kindern mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK eine Ausreise zugemutet werden kann, auch die Situation ihrer Familie von Bedeutung. Maßgeblich ist insbesondere, welche Unterstützung, die Kinder gegebenenfalls von ihren Eltern bei einer Integration im Heimatland erhalten können (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 10. Mai 2006 11 S 2354/05 , VBlBW 2006, 438; Nds. OVG, Urteil vom 21. Februar 2006 1 LB 181/05 ; VG Stuttgart, Urteil vom 26. Oktober 2006 4 K 1753/06 , jeweils mit weiteren Nachweisen).

Zudem kann die Verwurzelung von Kindern im bisherigen Aufenthaltsland auch nicht so tiefgehend sein wie bei jungen (erwachsenen) Menschen, die ihre gesamte Sozialisation dort erfahren haben (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. Januar 2006 18 B 44/06 , EZAR NF 51 Nr. 12; VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Dezember 2005 6 K 5/04).

Nach diesen Kriterien lässt sich auch nicht feststellen, dass die Antragsteller zu 3. und 4. in einem solchen Maße in Deutschland verwurzelt und aus den Lebensverhältnissen in Syrien entwurzelt sind, dass eine Aufenthaltsbeendigung unverhältnismäßig wäre. Zugunsten der 14- bzw. 13-jährigen Antragsteller zu 3. und 4. ist zu berücksichtigen, dass sie sich seit neun Jahren im Bundesgebiet aufhalten und hier mit beachtlichem Erfolg eine Gesamtschule besuchen. Sie beherrschen die deutsche Sprache in Wort und Schrift. In der Schule sind sie sozial gut integriert und haben einen festen Freundeskreis. Da sie nur kurdisch, nicht aber arabisch sprechen, wäre ihnen ein Schulbesuch in Syrien jedenfalls zunächst nicht möglich. Hierbei handelt es sich jedoch um Schwierigkeiten, denen eine Vielzahl junger Kurden in Syrien ausgesetzt ist.

Angesichts ihres vergleichsweise jungen Alters von 14 bzw. 13 Jahren ist die Verwurzelung der Antragsteller zu 3. und 4. in Deutschland noch nicht so ausgeprägt wie die von jungen Erwachsenen. Zudem waren sie bei der letzten Ausreise aus Syrien bereits fünf bzw. vier Jahre alt. Sie werden daher zumindest rudimentäre Erinnerungen an die Verhältnisse in ihrem Heimatland haben. Maßgeblich zu berücksichtigen ist ferner, dass die Antragsteller zu 3. und 4. bei der Überwindung der Schwierigkeiten, denen sie bei einer Eingliederung in die Verhältnisse in Syrien ausgesetzt wären, nicht auf sich allein gestellt wären. Sie könnten bei gemeinsamer Ausreise auf die Hilfe ihrer Eltern vertrauen, die über 30 bzw. mehr als 20 Jahre in Syrien gelebt haben, dort ihre gesamte Sozialisation erfahren haben und mit den dortigen Verhältnissen vertraut sind.

Bei der Abwägung der öffentlichen und privaten Belange ist zulasten der Antragsteller zu 3. und 4. von erheblicher Bedeutung, dass sie zu keinem Zeitpunkt im Besitz eines Aufenthaltstitels war, der berechtigterweise die Erwartung hervorrufen konnte, in Deutschland bleiben zu dürfen. Die Familie hält sich seit der Ablehnung ihrer Asylanträge geduldet im Bundesgebiet auf. Die Erteilung von Duldungen und der langjährige Aufenthalt sind darauf zurückzuführen, dass eine Abschiebung an fehlenden Heimreisedokumenten scheiterte. Hierzu haben die Eltern der Antragsteller zu 3. und 4. ganz maßgeblich beigetragen, indem sie bei ihrer Einreise falsche Personalien angaben und insbesondere behaupteten, nicht die syrische Staatsangehörigkeit zu besitzen. Dieses Verhalten ihrer Eltern ist den Antragstellern zu 3. und 4. zuzurechnen. Bei der gebotenen Gesamtabwägung ist ferner von Bedeutung, dass die Antragsteller zu 1. und 2. zwar nicht unerhebliche Integrationsleistungen in Deutschland erbracht haben (beide können deutsch, der Antragsteller zu 1. ist erwerbstätig), eine Rückkehr nach Syrien für sie aber dennoch nicht unzumutbar ist. Sie sind mit den dortigen Verhältnissen aufgrund ihres langjährigen Aufenthalts vertraut. Es ist nicht vorgetragen oder sonst ersichtlich, dass es für sie mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein könnte, sich in ihrem Heimatland wieder zu integrieren. [...]