VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 17.08.2009 - 3 A 2146/08.Z.A - asyl.net: M16887
https://www.asyl.net/rsdb/M16887
Leitsatz:

In der Zurückweisung eines auf dem Luftweg in das Bundesgebiet gelangten Asylbewerbers, der nicht von Deutschland Asyl begehrt, und in der Verbringung in den Transitbereich des Flughafens bis zur Entscheidung über die Übernahme des Asylverfahrens durch einen anderen Mitgliedstaat der EU nach der Dublin II-VO liegt keine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Asylantrag, Asylgesuch, Bundespolizei, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zurückweisung, Frankreich, Flughafenverfahren, Haftbeschluss, Freiheitsentziehung
Normen: AufenthG § 15 Abs. 6, AsylVfG § 18 Abs. 2 Nr. 2, AufenthG § 15 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor genannte Urteil des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und des Vorliegens eines in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmangels (Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 und 3 AsylVfG) liegen nicht vor. [...]

Die als rechtsgrundsätzlich bezeichneten Fragen, u.a. nach der Verfassungsmäßigkeit des § 15 Abs. 6 AufenthG und nach der Rechtmäßigkeit der Durchführung eines Dublin II-Verfahrens schon nach einer Asylnachsuche beim Bundespolizeiamt ohne Asylantragstellung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, müssten in einem Berufungsverfahren nicht beantwortet werden. Die Kläger hatten ursprünglich eine auf die Aufhebung der nur gegenüber der Klägerin zu 1 ergangenen Verfügung vom 7. Mai 2008, in der der Klägerin zu 1 die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gemäß § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG verweigert und die Zurückweisung gemäß § 15 Abs. 1 AufenthG nach Frankreich verfügt wurde, und die Verpflichtung, den Klägern die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zu gestatten, gerichtete Klage erhoben. Nachdem Frankreich Ende Mai 2008 einer Übernahme der Kläger zugestimmt hatte und die Kläger am 6. Juni 2008 die Bundesrepublik Deutschland mit einem Flugzeug nach Paris verlassen hatten, ist beantragt worden, festzustellen, dass die Verweigerung der Einreise und das Festhalten gemäß § 15 Abs. 6 AufenthG für die 30 Tage ohne Haftbeschluss durch Verwaltungsakt der Bundespolizei rechtswidrig war. Mit Schriftsatz vom 25. Juli 2008 ist der Antrag dahin erläutert worden, dass er sich auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufenthaltsanordnung bis zum Beschluss des Amtsgerichts am 9. Mai 2008, d. h. für die ersten 30 Tage am Flughafen gemäß § 15 Abs. 6 AufenthG, beschränke. [...]

Ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts besteht bei einer Präjudizialität für Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüchen, bei einer hinreichend konkreten Wiederholungsgefahr und bei einem Rehabilitationsinteresse, d.h. dann, wenn die begehrte Feststellung, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig war, als "Genugtuung" und/oder zur Rehabilitierung erforderlich ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 113 Rdnr. 136 - 144 mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung). Eine Präjudizialität des erledigten Verwaltungsakts für Schadens- oder Entschädigungsansprüche haben die Kläger nicht dargelegt. Es besteht auch nicht die Gefahr einer Wiederholung der Einreiseverweigerung, weil nicht ersichtlich ist, dass die Kläger erneut beabsichtigten, mit einem Pass mit falschen Namen in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen. Die Kläger haben auch nicht dargelegt, dass bei ihnen ein Rehabilitierungsinteresse besteht. Die Kläger haben im Zulassungsantrag das Bestehen eines Feststellungsinteresses damit begründet, dass ihnen durch "Dublin-Haft" nach § 15 Abs. 6 AufenthG und bei der Klägerin zu 1 auch durch Haft, verhängt durch das Amtsgericht, die Freiheit entzogen worden sei. Bei den Klägern zu 2 bis 4 sei dies rechtswidrig ohne Rechtsgrundlage geschehen, bis das Verwaltungsgericht festgestellt habe, dass die Einreise gestattet werden müsse. Bei Freiheitsentziehung bestehe aber mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Rechtsschutzbedürfnis, die Rechtswidrigkeit auch feststellen zu lassen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. grundlegend Beschluss v. 05.12.2001 - 2 BvR 527/99, 2 BvR 1337/00, 2 BvR 1777/00 - BVerfGE 104, 220) indiziert der Freiheitsverlust durch Inhaftierung ein Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen, das ein von Art. 19 Abs. 4 GG umfasstes Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung der Rechtswidrigkeit auch dann begründet, wenn die Maßnahme erledigt ist. Weitere, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannte Fallgruppen, in denen ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung auch nach Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels fortbestehen kann, sind neben der Wiederholungsgefahr und einem Rehabilitierungsinteresse ein tiefgreifender Grundrechtseingriff und eine fortwirkende Beeinträchtigung (vgl. BVerfG, B. v. 09.09.2005 - 2 BvR 431/02 - NJW 2006, 40). Die Kläger haben jedoch ihre Freiheit nicht durch Inhaftierung verloren. Auch ein ähnlich tiefgreifender Grundrechtseingriff oder eine fortwirkende Beeinträchtigung liegen nicht vor.

Die Kläger wollten mit einem polnischen Schengen-Visum, das sich in einem libyschen Reisepass befand, der auf einen falschen Namen lautete, in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Sie gaben bei ihrer Anhörung durch die Bundespolizeidirektion Flughafen B-Stadt an, zu ihrem in Frankreich lebenden Ehemann bzw. Vater reisen zu wollen. Die Bundespolizeidirektion Flughafen B-Stadt hat ihnen daraufhin die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gemäß § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG verweigert und die Kläger hielten sich ab dem 13. April 2008 im Transitbereich des Flughafens B-Stadt auf. Der Aufenthalt in dem Transitbereich eines Flughafens ist keine Freiheitsbeschränkung und keine Freiheitsentziehung i. S. d. von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG. Dies ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1516/93 - BVerfGE 94, 166 ausgeführt:

"Die Begrenzung des Aufenthalts von Asylsuchenden während des Verfahrens nach § 18a AsylVfG auf die für ihre Unterbringung vorgesehenen Räumlichkeiten im Transitbereich des Flughafens stellt keine Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung (Art. 104 GG i. V. mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) dar. [...]

Im vorliegenden Fall befanden sich die Kläger "für die 30 Tage ohne Haftbeschluss" nicht in Zurückweisungshaft im Sinne des § 15 Abs. 5 AufenthG. Sie befanden sich - entsprechend der Regelung des § 15 Abs. 6 AufenthG - im Transitbereich. Nach der Regelung des § 15 Abs. 6 Satz 1 AufenthG ist bei einer Verbringung in den Transitbereich eine Abreise aus dem Bundesgebiet möglich, wenn Zurückweisungshaft nicht beantragt wird. Die Kläger waren mithin rechtlich nicht daran gehindert, die Bundesrepublik Deutschland "luftseitig" zu verlassen. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts waren die Kläger somit keiner staatlichen Freiheitsentziehung unterworfen. Das Bestehen eines Rehabilitierungsinteresses bei den Klägern ist daher nicht zu erkennen.

Hinzu kommt, dass gegenüber den Behörden der Bundesrepublik Deutschland, die mit dem Fall der Kläger befasst waren, der Vorwurf einer zögerlichen Behandlung des Falles nicht erhoben werden kann. Nachdem bei dem Einreiseversuch der Kläger festgestellt wurde, dass in dem Pass der Klägerin zu 1 ein falscher Name angegeben war, und die Kläger sowie der ebenfalls auf dem Gelände des Flughafens anwesende Ehemann bzw. Vater der Kläger angaben, dass die Kläger in Frankreich Schutz vor politischer Verfolgung suchen wollten, wurde das nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung der Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist ("Dublin II-Verordnung") vorgesehene Verfahren schnell eingeleitet. Nachdem die Kläger bei der grenzpolizeilichen Einreisekontrolle des Fluges LH 4121 am 13. April 2008 um 19.00 Uhr aufgefallen sind und sich mit Hilfe eines Dolmetschers um 23.45 Uhr als Asylsuchende zu erkennen gegeben haben, wurde die Klägerin zu 1 am 17. April 2008 ausführlich befragt und die Zentrale des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg wurde noch am selben Tag per Telefax von dem Vorfall unterrichtet, damit diese das Verfahren nach der Dublin II-Verordnung einleiten konnte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat dann bereits mit Telefax vom Montag, dem 21. April 2008, mitgeteilt, dass sie gemäß den Bestimmungen von Dublin II Frankreich um die Übernahme der o. g. Personen gebeten haben. Der Umstand, dass Frankreich seine Übernahmebereitschaft erst Ende Mai 2008 erklärt hat und eine Überstellung dann am 6. Juni 2008 erfolgte, kann den deutschen Behörden nicht angelastet werden. Ein tiefgreifender Grundrechtseingriff liegt deshalb nicht vor. Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, dass eine fortwirkende Beeinträchtigung der Kläger vorliegt. Die Bundespolizei und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge haben lediglich, nachdem die Kläger mit einem Pass mit falschen Namen versucht haben einzureisen und den Wunsch geäußert haben, in Frankreich politisches Asyl zu erhalten, die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen ergriffen. [...]