OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.08.2010 - 18 B 623/10 - asyl.net: M17406
https://www.asyl.net/rsdb/M17406
Leitsatz:

Es spricht viel dafür, dass der 15-jährige Antragsteller, der seit seiner Geburt in Deutschland lebt, in einem solchen Maße in Deutschland verwurzelt und aus den Lebensverhältnissen in der Türkei entwurzelt ist, dass eine Beendigung seines Aufenthalts unverhältnismäßig wäre. Er hat in Deutschland große Integrationsleistungen erbracht (Schüler mit überdurchschnittlichen Leistungen und gelungener sozialer Integration). Eine Ausreise in die Türkei würde ferner zu einer Trennung der Kernfamilie führen, da fünf seiner Geschwister Aufenthaltserlaubnisse besitzen. Schließlich wäre ihm eine Eingliederung in das türkische Schulsystem nur unter Schwierigkeiten möglich, da in der Familie arabisch gesprochen wird. Um in der Türkei einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, dürften jedoch türkische Sprachkenntnisse in Wort und Schrift unabdingbar sein.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, vorläufiger Rechtsschutz, Achtung des Privatlebens, Verwurzelung, Integration, Schutz von Ehe und Familie, einstweilige Anordnung, Verhältnismäßigkeit, minderjährig, einwanderungspolitische Interessen, Türkei, Schulbesuch
Normen: VwGO § 123 Abs. 1 S. 2, EMRK Art. 8, GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Aber auch bei älteren Kindern kommt der gesetzlichen Wertung, dass sie grundsätzlich das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer erziehungsberechtigten Eltern teilen, erhebliche Bedeutung zu. Gerade in Fällen, in denen die Eltern keine besonderen Integrationsleistungen erbracht haben bzw. ihnen eine Rückkehr ohne weiteres zumutbar ist, sind erhebliche einwanderungspolitische Interessen berührt, wenn das minderjährige Kind seinen nicht oder nur unzulänglich integrierten Eltern ein Aufenthaltsrecht verschaffen würde mit der Folge, dass im Ergebnis die Eltern wegen des Schutzes der familiären Lebensgemeinschaft durch Art. 6 Abs. 1 GG das aufenthaltsrechtliche Schicksal des Kindes teilen würden und nicht umgekehrt. Diesen einwanderungspolitischen Interessen kommt bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung, ob dem Kind eine Ausreise mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK zugemutet werden kann, erhebliches Gewicht zu. Weil die Kinder auf die familien- und sorgerechtlich zu erbringenden Erziehungs- und Hilfeleistungen ihrer Eltern angewiesen sind, ist bei der Beurteilung, ob den Kindern mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK eine Ausreise zugemutet werden kann, auch die Situation ihrer Familie von Bedeutung. Maßgeblich ist insbesondere, welche Unterstützung die gegebenenfalls von ihren Eltern bei einer Intregration im Heimatland erhalten können (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 10. Mai 2006 - 11 S 2354/05 -, VBlBW 2006, 438; Nds. OVG, Urteil vom 21. Februar 2006 - 1 LB 181/05 -; VG Stuttgart, Urteil vom 26. Oktober 2006 - 4 K 1753/06 jeweils mit weiteren Nachweisen).

Zudem kann die Verwurzelung von Kindern im bisherigen Aufenthaltsland auch nicht so tiefgehend sein wie bei jungen (erwachsenen) Menschen, die ihre gesamte Sozialisation dort erfahren haben (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. Januar 2006 - 18 B 44/06 EZAR NF 51 Nr. 12; VG Karlsruhe, Urteil vom l9. Dezember 2005 - 6 K 5/04 -).

Nach diesen Kriterien spricht viel dafür, dass dem Antragsteller zu 3. ein weiterer Verbleib im Bundesgebiet zu gestatten sein wird. Allerdings fallen einwanderungspolitische Interessen deutlich zu Lasten des Antragstellers zu 3. ins Gewicht, weil erhebliche Gründe dafür streiten, den Aufenthalt seiner erziehungsberechtigten Eltern, deren aufenthaltsrechtliches Schicksal er grundsätzlich teilt, zu beenden. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass der 22-jährige Aufenthalt der Antragsteller zu 1. und 2. im Wesentlichen auf der Täuschung der zuständigen Behörden über ihre wahre Identität und Staatsangehörigkeit beruht. Zudem ist es ihnen trotz ihres langjährigen Aufenthalts allenfalls ansatzweise gelungen, sich in die Lebensverhältnisse in Deutschland zu integrieren. Sie sprechen kaum bzw. gar kein deutsch. Die Antragstellerin zu 2. ist nicht erwerbstätig, der Antragsteller zu 1. hat nach mehr als zehnjähriger Arbeitslosigkeit und offenbar nur unter dem Druck einer drohenden Abschiebung am 1. März 2010 eine Arbeitsstelle angetreten, die zur Sicherung des Lebensunterhalts der Familie nicht ausreichend ist.

Dennoch spricht viel dafür, dass der Antragsteller zu 3. in einem solchen Maße in Deutschland verwurzelt und aus den Lebensverhältnissen in der Türkei entwurzelt ist, dass eine Beendigung seines Aufenthalts unverhältnismäßig wäre. Zugunsten des 15-jährigen Antragstellers zu 3. ist zu berücksichtigen, dass er sich sein gesamtes Leben in Deutschland aufgehalten und hier große Integrationsleistungen erbracht hat. Er besucht nicht nur - wie es bei schulpflichtigen Kindern regelmäßig zu erwarten ist - die Schule, sondern tut dies mit bemerkenswertem Erfolg. Er nimmt auf seiner Gesamtschule ausnahmslos an den für leistungsstärkere Schüler eingerichteten sogenannten E-Kursen teil. Sein Halbjahreszeugnis ist weit überdurchschnittlich. Die schlechtesten Noten sind zweimal "befriedigend" in Deutsch (E-Kurs) und Geschichte. Vor dem Hintergrund, dass seine Eltern kein bzw. fast kein deutsch sprechen, ihn also in schulischen Angelegenheiten nicht unterstützen können, zeugt dies von bemerkenswertem Engagement und großen intellektuellen Fähigkeiten. Das durchweg mit "gut" bewertete Arbeits- und Sozialverhalten legt nahe, dass dem Antragsteller zu 3. auch eine soziale Integration in Deutschland gelungen ist. Dies wird jedoch im Hauptsacheverfahren noch näher aufzuklären sein. Dabei wird den sozialen Kontakten des Antragstellers zu 3. innerhalb und außerhalb der Schule nachzugehen sein. Von Bedeutung wird sein, ob er sich in seiner Freizeit z.B. in Vereinen oder Jugendgruppen betätigt und in seinem Freundeskreis deutsch gesprochen wird.

Eine Ausreise in die Türkei wäre für den Antragsteller zu 3. zudem deshalb besonders belastend, weil sie zu einer Trennung der Kernfamilie führen würde. Fünf seiner Geschwister besitzen Aufenthaltserlaubnisse und würden nicht mit den Antragstellern in die Türkei ausreisen. Der Antragsteller zu 3. hat geltend gemacht, zu diesen Geschwistern ein enges Verhältnis zu besitzen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird im Hauptsacheverfahren zu klären sein, liegt aber angesichts des Altersunterschieds von teilweise nur wenigen Jahren nahe.

Schließlich ist zugunsten des Antragstellers zu 3. zu berücksichtigen, dass ihm eine Eingliederung in das türkische Schulsystem nur unter Schwierigkeiten möglich wäre. Nach Aktenlage wird innerhalb der Familie arabisch gesprochen. Um in der Türkei einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, dürften jedoch türkische Sprachkenntnisse in Wort und Schrift unabdingbar sein.

Ist eine Abschiebung des Antragstellers zu 3. unzulässig, steht Art. 6 GG - obwohl ihr weiterer Aufenthalt einwanderungspolitische Interessen der Bundesrepublik beeinträchtigt - auch einer Abschiebung seiner erziehungsberechtigten Eltern, den Antragstellern zu 1. und 2. entgegen. Als Folge hiervon kommt auch eine Abschiebung der minderjährigen Antragsteller zu 4. und 5. nicht in Betracht. [...]