OLG Braunschweig

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Zitieren als:
OLG Braunschweig, Beschluss vom 10.08.2010 - Ss 60/10 - asyl.net: M17421
https://www.asyl.net/rsdb/M17421
Leitsatz:

Erfolgreiche Revision wegen Verfahrensfehler bei Verurteilung zu Geldstrafe wegen unerlaubten Aufenthalts (60 Tagessätze zu je 1,- EUR). Das Landgericht hätte auf den entsprechenden Beweisantrag hin aufklären müssen, ob die iranischen Behörden sowohl für die Passerteilung als auch für die Ausstellung von Passersatzpapieren die Abgabe einer sog. Freiwilligkeitserklärung verlangen.

Schlagwörter: Ausländerstrafrecht, unerlaubter Aufenthalt, Geldstrafe, Tagessatz, Revisionsverfahren, Verfahrensfehler, Beweisantrag, Beweisermittlungsantrag, Freiwilligkeitserklärung, Iran, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1, StPO § 244 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Das Amtsgericht Goslar hat die Angeklagte am 5. Oktober 2009 wegen unerlaubten Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 5,- € verurteilt. Auf die Berufung der Angeklagten ist das Urteil des Amtsgerichts durch das angefochtene Urteil wie folgt abgeändert und klarstellend neu gefasst worden: Die Angeklagte wird wegen Verstoßen gegen das Aufenthaltsgesetz zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 1,- € verurteilt; die weitergehende Berufung der Angeklagten wird verworfen. Hierzu hat das Landgericht festgestellt, die Angeklagte sei am 30.12.2001 illegal in das Bundesgebiet eingereist. Sie verfüge weder über einen iranischen Reisepass noch über einen Passersatz, sondern lediglich über eine Duldung des Landkreises Goslar, die mit dem Vermerk versehen sei, dass der Inhaber mit ihr der Pass- und Ausweispflicht nicht genüge. Durch Schreiben des Landkreises Goslar vom 09.06.2006 sei die Angeklagte aufgefordert worden, bis spätestens zum 27.06.2006 einen Reisepass oder Passersatzpapiere bei der zuständigen Auslandsvertretung zu beantragen. Dieser Aufforderung sei die Angeklagte bis heute nicht nachgekommen, obwohl die Ausstellung eines iranischen Reisepasses durch das Generalkonsulat der Islamischen Republik Iran in Hamburg möglich gewesen wäre.

Hiergegen hat die Angeklagte unter Erhebung der Verfahrens- und der Sachrüge Revision eingelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft unterstützt das Rechtsmittel und hat beantragt wie erkannt. [...]

Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft (die im Ergebnis allerdings ebenfalls von einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge ausgeht) handelt es sich bei dem genannten Antrag nicht nur um einen Beweisermittlungsantrag, sondern um einen Beweisantrag. Vorliegend hat der Antragsteller bestimmt behauptet, dass das Generalkonsulat einen Pass nur dann ausstellt, wenn (neben weiteren Voraussetzungen) der Antragsteller erklärt, aus freien Stücken in den Iran zurückzukehren. Selbst wenn der Antragsteller das Vorliegen dieser Beweistatsache tatsächlich nur vermutet (wovon offensichtlich die Generalstaatsanwaltschaft ausgeht), sie aber dennoch in eine bestimmte Tatsachenbehauptung kleidet, kommt es für die Abgrenzung zwischen Beweis- und Beweisermittlungsantrag darauf an, ob für die vermutete Tatsache Anhaltspunkte vorliegen oder nicht, denn auch dann, wenn der Antragsteller die Beweistatsache nur vermutet oder für möglich hält, hindert ihn dies nicht daran, einen Beweisantrag zu stellen (Bachler in Graf, StPO, § 244 Rn. 46 und 20 m. Rspr. Nw.). Ein Beweisantrag kann nämlich nicht deshalb zum Beweisermittlungsantrag herabgestuft werden, weil der Antragsteller, das was er behauptet, "nur" für möglich hält (Fischer in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Auflage, § 244 Rn. 100 und 73 m. Rspr. Nw.).

Vorliegend ist von einem Beweisantrag auszugehen, denn für die vermutete Tatsache, dass die sogenannte Freiwilligkeitserklärung für die Passausstellung verlangt wird, liegen Anhaltspunkte vor. Hierfür spricht zunächst das Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 16.01.2007 (2St OLG Ss 242/06), welches davon ausgeht, dass aufgrund der Feststellungen des Landgerichts aus iranischer Sicht sowohl für das Passerteilungsverfahren als auch für die Ausstellung von Passersatzpapieren die Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung erforderlich ist. Auch nach dem Vermerk der Stadt Kassel vom 11.12.2006 ist deren Angabe zumindest für iranische Passersatzpapiere erforderlich.

Die Ablehnung des Beweisantrags war auch fehlerhaft, weil sie gegen das Verbot der Beweisantizipation verstößt. Denn ein Beweisantrag darf nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass das Beweismittel die Beweisbehauptung nicht bestätigen werde (BGH StV 1994, 62, 63) oder durch die bisherige Beweisaufnahme schon widerlegt sei (BGH StV 1993, 621, 622). Zwar kann gemäß § 244 Abs. 3 StPO ein Beweisantrag auch dann abgelehnt werden, wenn das Gegenteil der behaupteten Tatsache offenkundig ist (Bachler in Graf, a.a.O., § 244 Rn. 52). Vorliegend ist es aber gerade nicht offenkundig, dass keine Freiwilligkeitserklärung notwendig ist für die Erlangung iranischer Ausweispapiere. Zwar durfte die Strafkammer das Schreiben des Konsuls des Generalkonsulats der Republik Iran vom 14. Juni 2007 verlesen, wonach eine Freiwilligkeitserklärung als Voraussetzung für die Erteilung eines iranischen Reispasses nicht erwähnt wird. Jedoch liegen Anhaltspunkte für das Gegenteil vor, wie sich aus dem vorangehenden Absatz ergibt, so dass diesbezüglich zur erschöpfenden Sachaufklärung (vgl. hierzu Diemer in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 256 Rn, 10) Vorhalte hätten gemacht werden müssen, was nur im Rahmen einer persönlichen Vernehmung möglich ist. Damit hat die Strafkammer den Beweisantrag zu Unrecht abgelehnt. [...]