VfGH Österreich

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Zitieren als:
VfGH Österreich, Entscheidung vom 07.10.2010 - U 694/10-19 [ASYLMAGAZIN 2010, S. 426 f.] - asyl.net: M17741
https://www.asyl.net/rsdb/M17741
Leitsatz:

Die generelle Auskunft, dass es für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge in Griechenland grundsätzllich eine staatliche Versorgung gibt, ersetzt nicht eine individualisierte Versorgungszusage, die im Lichte des Art. 3 EMRK für besonders schutzwürdige Personen geboten ist (hier: alleinstehende Frau mit drei minderjährigen Kindern).

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, Österreich, erniedrigende Behandlung, unmenschliche Behandlung, Zustimmungsfiktion, Selbsteintritt, besonders schutzbedürftig, Beschwerde, B-VG Art. 144a
Normen: EMRK Art. 3, EMRK Art. 8, VO 343/2003 Art. 10 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 18 Abs. 7, VO 343/2003 Art. 4 Abs. 3, AsylG 2005 § 5 Abs. 1, AsylG 2005 § 10 Abs. 1 Z 1, AsylG 2005 § 10 Abs. 4, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Das gemäß Art. 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wird durch eine Entscheidung des Asylgerichtshofes verletzt, wenn er eine Verletzung desselben nicht wahrnimmt. Ein solcher verfassungswidriger Eingriff liegt aber auch vor, wenn die Entscheidung in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn er auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn der Behörde grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (zB VfSlg. 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998 und 16.384/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:

Wie der Asylgerichtshof zunächst zutreffend festgestellt hat, kann ein Asylwerber im Falle der Überstellung nach Griechenland in seinem gemäß Art. 3 EMRK garantierten Recht insoweit verletzt werden, als Unterkunft und Versorgung in Griechenland nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden. Dies insbesondere dann, wenn es sich - wie im vorliegenden Fall einer allein stehenden Frau mit drei Kleinkindern, wovon eines erst neun Monate alt ist, - um Asylwerber handelt, bei denen individuelle Gründe bestehen, die die Annahme einer besonderen Schutzbedürftigkeit rechtfertigen. Um in diesen besonders gelagerten Einzelfällen eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu vermeiden, hat es der Asylgerichtshof selbst bereits als erforderlich erachtet, eine individuelle Zusicherung der griechischen Behörden im Hinblick auf die Versorgung von nach Griechenland zu überstellenden Asylwerbern zu erwirken (vgl. etwa zur Einholung einer individuellen Zusicherung der [medizinischen] Versorgung eines schutzbedürftigen Asylwerbers AsylGH 16.11.2009, S14 406668-2/2009 sowie 20.5.2010, S16 412989-1/2010; vgl. zur mangelnden Zusicherung der Bereitstellung einer Unterkunft AsylGH 22.6.2009, S10 405811-2/2009, sowie zu nicht genügenden allgemeinen Ausführungen hinsichtlich der Unterbringung einer Mutter mit Kleinkindern AsylGH 19.10.2009, S13 404115-2/2009).

Der Asylgerichtshof hat - in Kenntnis um die allgemeine Situation von Asylsuchenden in Griechenland - auch im vorliegenden Fall ergänzende Erhebungen durch das Bundesasylamt veranlasst, um sicher sein zu können, dass die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rücküberstellung nach Griechenland durch eine mangelnde Versorgung nicht in ihrem nach Art. 3 EMRK garantierten Recht verletzt werden.

Allerdings begnügte er sich in Folge mit einer bloß allgemeinen Mitteilung des Bundesasylamtes, dass den griechischen Behörden die Ankunft von Asylwerbern über das elektronische Kommunikationsnetzwerk "DublinNet" angekündigt werden müsse und diese Ankündigung (unter Angabe etwaiger "Besonderheiten") schon unmittelbar nach Bekanntgabe der Flugdaten von der österreichischen Fremdenpolizei an Griechenland zur Vorabinformation gesendet werde; diese Auskunft des Bundesasylamtes ergänzt lediglich einen in anderem Zusammenhang erstellten Bericht der Österreichischen Botschaft Athen, wonach bei Überstellung "vulnerabler Personen" nach Griechenland durch staatliche Einrichtungen diesen zumindest vorläufig Unterkunft gewährt werde.

Für den Verfassungsgerichtshof ergibt sich somit das Bild, dass es bei Rücküberstellung schutzwürdiger Personen nach Griechenland zur Durchführung der Asylverfahren grundsätzlich zwar die Möglichkeit staatlicher Versorgung gibt, jedoch ohne fallbezogene individuelle Zusicherung der zuständigen Behörden davon nicht automatisch ausgegangen werden kann.

Wenn sich der Asylgerichtshof im Fall der Beschwerdeführer allein mit generellen Auskünften begnügt, ersetzt dies nicht eine individualisierte Versorgungszusage durch griechische Behörden, wie dies im Lichte des Art. 3 EMRK für besonders schutzwürdige Personen jedoch geboten ist.

Dadurch, dass der Asylgerichtshof diese, zur Beurteilung der Frage, ob Österreich zum Selbsteintritt gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO verpflichtet wäre, unabdingbare Prämisse nicht hinreichend bzw. zutreffend gewürdigt hat, wurden die Beschwerdeführer in ihrem Recht gemäß Art. 3 EMRK verletzt. [...]