VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 23.02.2011 - 9 L 388/11.F.A - asyl.net: M18319
https://www.asyl.net/rsdb/M18319
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung eines unbegleiteten Minderjährigen nach Italien. Wenn das Gemeinsame Europäische Asylsystem nicht wie erwartet funktioniert, weil ein Mitgliedstaat geltendes Verfahrensrecht nicht umsetzt oder anwendet, sind allein die zuständigen EU-Organe dafür zuständig, notwendige Maßnahmen zu treffen, um rechtmäßige Zustände herzustellen, worauf auch das BVerfG in dem Beschluss vom 25.1.2011 (2 BvR 2015/09, asyl.net, M18154) hingewiesen hat. Vorläufiger Rechtsschutz in Dublin-Verfahren ist daher entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG nur zulässig, wenn nach Maßgabe des BVerfG eine erhebliche konkrete Gefahr droht, was vorliegend zu verneinen ist, da der Antragsteller in Italien nicht unmittelbar in seiner Existenz bedroht wäre oder das Risiko besteht, dass er in sein Heimatland abgeschoben wird, bevor sein Asylgesuch geprüft wurde. Sein Vorbringen, die italienischen Behörden hätten ihn aufgefordert, sein Geburtsdatum mit 1990 anzugeben, ließe auch bei Wahrunterstellung keine Schlüsse dahin zu, dass in Italien eine erhebliche Gefahr für Leib oder Leben droht.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, unbegleitete Minderjährige, Altersfeststellung, Somalia, Niederlande, sichere Drittstaaten, Konzept der normativen Vergewisserung, erhebliche individuelle Gefahr
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 2, GG Art. 16a Abs. 2 S. 1, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 2 S. 2, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 2 S. 4
Auszüge:

[...]

Der gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gerichtete Antrag ist unzulässig, weswegen auch der PKH-Antrag abzulehnen war (§§ 166 VwGO, 114 ZPO). Es ist dem Gericht schon gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG - eine Vorschrift mit Verfassungsrang (vgl. Art. 16a Abs. 1 Satz 3 GG) - untersagt, vorläufigen Rechtsschutz gegen die Rücküberstellung eines Ausländers in einen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften zu gewähren. Denn Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften gelten kraft Verfassungsrechts als sichere Drittstaaten (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG). Wer sich aber in einem sicheren Drittstaat aufgehalten hat, bedarf nicht des Schutzes eines anderen Staates. Der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes hat den Zweck, den schutzbegehrenden Ausländer im Interesse einer effektiven Lastenverteilung alsbald in den Drittstaat zurückzuführen (BVerfGE 94, 49, 95 f.). Die Regelung korrespondiert mit dem Gemeinschaftsrecht. Gemäß Artikel 19 Abs. 2 Satz 2 VO (EG) Nr. 343/2003 ("Dublin II") hat ein gegen die Rücküberstellung in einen Mitgliedstaat eingelegter Rechtsbehelf grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung, und gemäß Absatz 2 der Erwägungsgründe zu dieser Verordnung gelten die Mitgliedsstaaten als sichere Staaten. Diese Bestimmungen sind Bestandteil des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, welches eine klare und praktikable, auf objektiven und gerechten Kriterien basierende Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats ermöglichen soll, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden (Absätze 3 und 4 der Erwägungsgründe zur VO (EG) Nr. 343/2003).

Ein nationales Gericht eines Mitgliedsstaats darf sich über diese Verfahrensvorschriften nicht schon dann hinwegsetzen, wenn es der Überzeugung ist, dass ein anderer Mitgliedsstaat seiner Verpflichtung, effektiven Zugang zum Asylverfahren zu gewähren und Asylanträge zügig zu bearbeiten, generell oder im Einzelfall nicht nachkommt. Ein solcher Funktionsvorbehalt ist weder im nationalen noch im gemeinschaftsrechtlichen Asylrecht ausdrücklich normiert; er ist dort auch nicht unausgesprochen angelegt. In Bezug auf das deutsche Asylrecht gelten die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten - ungeschriebenen - Rückausnahmen vom Verbot, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren (vgl. BVerfGE 94, 49, 98 ff.). Sie sind restriktiv formuliert und sollen verhindern, dass der Schutzsuchende in Folge seiner Rückführung in den Drittstaat erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt wäre. Hierzu gehört auch die Verhinderung eines drohenden Verstoßes gegen das Refoulment-Verbot gemäß § 33 Abs. 1 GFK. Defizitäre Asylverfahren in Drittstaaten allein führen nach deutschem Asylrecht nicht zu einer Einstandspflicht der Bundesrepublik Deutschland, weswegen auch die aktuellen Medienberichte über Kapazitätsgrenzen des italienischen Asylverfahrens hier nicht entscheidungserheblich sind.

Das Gemeinschaftsrecht kennt keine weiterreichenden Ausnahmen vom Verbot der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, wie sich aus Art. 19 Abs. 2 Satz 4 VO (EG) Nr. 343/2003 ergibt. Vorläufiger Rechtschutz gegen die Überstellung in einen Mitgliedsstaat darf nach dieser Bestimmung ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn die Gerichte im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders entscheiden. Diese Rückausnahme zugunsten des nationalen Rechts ist eine abschließende Regelung mit der Folge, dass es eine ungeschriebene Ausnahme im Sinne eines Funktionsvorbehalts nicht gibt. Wenn das Gemeinsame Europäische Asylsystem nicht wie erwartet funktioniert, weil ein Mitgliedsstaat geltendes Verfahrensrecht nicht umsetzt oder anwendet, sind allein die zuständigen Organe der Europäischen Union dazu berufen, die für notwendig angesehenen Maßnahmen zu treffen, um rechtmäßige Zustände herzustellen. In ein solchen Verfahren durch die Anordnung der Umverteilung von Schutzsuchenden einzugreifen ist einem nationalen Gericht schon aus Kompetenzgründen nicht erlaubt (vgl. VG Frankfurt am Main, Beschluss vom 17.08.2009, 3 L 2145/09; VG Frankfurt, Beschluss vom 04.09.2009 - 2 L 2202/09.F.A). Eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung wurde vom erkennenden Gericht zuletzt nur deswegen für sachangemessen erachtet, weil das Bundesverfassungsgericht die Absicht hatte erkennen lassen, das Konzept der normativen Vergewisserung einer Evaluation unterziehen zu wollen (VG Frankfurt, Beschluss vom 17.01.2001, 2 L 117/11). Diese Absicht hat das Bundesverfassungsgericht aber erkennbar aufgegeben, wie sich aus den Gründen des Beschlusses vom 15.01.2001 (2 BvR 2015/09) mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen lässt, in denen es heißt, dass die mit der Überforderung des Asylsystems eines Mitgliedstaats der Europäischen Union verbundenen transnationalen Probleme vornehmlich auf der Ebene der Europäischen Union zu bewältigen seien.

Das angerufene Verwaltungsgericht wird in Fällen wie diesem seinem Rechtsschutzauftrag deshalb dadurch gerecht, dass es sich auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob im Fall der Rücküberstellung in den inkriminierten Mitgliedsstaat der Schutzsuchende sich - nach Maßgabe der vom Bundesverfassungsgericht formulierten Ausnahmetatbestände (BVerfGE 94, 49, 98 f.) - erheblichen konkreten Gefahren ausgesetzt sähe. Diese Frage ist vorliegend zu verneinen, weil das Gericht keinen Grund für die Annahme hat, dass der Antragsteller im Fall einer Rücküberstellung nach Italien dort unmittelbar in seiner Existenz bedroht wäre oder dass er in sein Heimatland abgeschoben würde, bevor sein Asylgesuch geprüft worden ist. Der Antragsteller, der sich nach seinem Vorbringen jeweils nur für ganz kurze Zeit in Italien aufgehalten hat, bevor er in andere Länder - Niederlande, Deutschland - ausgereist ist, hat auch nichts in dieser Richtung vorgetragen. Sein Vorbringen, er sei, was er abgelehnt habe, von italienischen Behörden aufgefordert worden, sein Geburtsdatum mit 1990 anzugeben, ließe auch bei Wahrunterstellung keine Schlüsse dahin zu, dass im Fall seiner - von der italienischen Regierung hier ausdrücklich konsentieren - Rückübernahme erheblichen Gefahren an Leib oder Leben ausgesetzt würde.