LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.02.2011 - L 34 AS 92/11 B ER u. L 34 AS 112/11 B PKH - asyl.net: M18330
https://www.asyl.net/rsdb/M18330
Leitsatz:

Vorläufiger Anspruch auf SGB II-Leistungen für Unionsbürger (Lettland) mit Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche, da offen ist, ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II europarechtskonform ist.

Schlagwörter: SGB II, vorläufiger Rechtsschutz, Unionsbürger, Lettland, Leistungsausschluss, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, gewöhnlicher Aufenthalt, freizügigkeitsberechtigt, Arbeitsgenehmigung, selbständige Erwerbstätigkeit, Arbeitnehmerbegriff, rechtmäßiger Aufenthalt, erwerbsfähig, Sozialhilfe
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, GG Art. 19 Abs. 4, SGB I § 30 Abs. 3 S. 2, FreizügG/EU § 2 Nr. 1, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1, AEUV Art. 18, VO 883/2004/EG Art. 70
Auszüge:

[...]

Da somit die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II erfüllt sind, stellt sich die Frage, ob der Anspruch gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist. [...]

Ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II europarechtskonform ist, ist höchst umstritten (vgl. zum Ganzen Schreiber, Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf dem gemeinschaftsrechtlichen Prüfstand, info also 2009, Seite 195; Husmann, Reaktionen in der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38 und im deutschen Sozialleistungsrecht auf die Rechtsprechung des EuGH, NZS 2009, 652; Hailbronner, Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger auf gleichen Zugang zu sozialen Leistungen, ZFSH/SGB 2009, Seite 195; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2. Aufl., § 7 Rn. 13ff und Brühl/Schoch, LPK-SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn. 33ff). Von einer zumindest teilweisen Unvereinbarkeit mit Europarecht gehen u.a. das Bayerische Landessozialgericht aus (Beschluss vom 12. März 2008, Az. L 7 B 1104/07 AS ER, dokumentiert in juris) sowie das LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 25. August 2010, Az. L 7 AS 3769/10 ER-B, dokumentiert in juris). Die Entscheidung des EuGH auf die Vorlagebeschlüsse des Sozialgerichts Nürnberg (Urteil vom 4. Juni 2009, Az. C-22/08 und C-23/08, Vatsouras und Koupatantze, dokumentiert in juris sowie in SozR 4-6035 Art. 39 Nr. 5) hat diesbezüglich nicht sämtliche Fragen beantworten und Unklarheiten ausräumen können. Umstritten bleibt auch, ob Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158/77; so genannte Unionsbürgerrichtlinie), die eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie vorsieht, mit höherrangigem Europarecht vereinbar ist, insbesondere, ob er gegen den aus Art. 18 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - (früher Art. 12 des Vertrages über die Europäische Union - EV -) folgenden Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt (vgl. hierzu auch Schreiber, a.a.O., Seite 197). Von Bedeutung ist diesbezüglich, ob das Arbeitslosengeld II als "Sozialhilfe" anzusehen ist. Ob der erkennende Senat an seiner dies bejahenden Rechtsprechung festhält (vgl. Beschluss vom 8. Juni 2009, Az. L 34 AS 790/09 B ER, dokumentiert in juris) muss zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden; die hieran in Rechtsprechung und Literatur geäußerten Zweifel (vgl. z.B. Spellbrink, a.a.O., Rn. 18, der darauf hinweist, dass es lebensfremd und auch nicht zielführend wäre, den EU-Bürger über § 7 Abs. 1 Satz 2 nur von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auszuschließen, ihm aber europarechtlich einen Anspruch auf Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gemäß den §§ 14 ff SGB II einzuräumen, und Valgolio in Hauck/Noftz, Gesamtkommentar zum Sozialgesetzbuch, SGB II, § 7 Rn. 116ff., der das Urteil des EuGH vom 4. Juni 2009, Az. C-22/08 so versteht, dass der EuGH angenommen hat, dass, da die Grundsicherungsleistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern solle, es sich nicht um Sozialhilfe im Sinne des § 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie handele) sind geeignet, im Rahmen der Folgenabwägung einen vorläufigen Anspruch der Antragsteller zu begründen, da es zum jetzigen Zeitpunkt durchaus möglich erscheint, dass nach (späterer) Rechtsprechung des Bundessozialgerichts oder des EuGH ein Anspruch besteht.

Zweifel daran, dass das Arbeitslosengeld II entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Senats als Sozialhilfe anzusehen ist, ergeben sich für den Senat (auch) aus der Regelung des Art. 70 der zum 1. Mai 2010 in Kraft getretenen Verordnung - VO - (EG) Nr. 883/2004 (ABl.. L 116 vom 30. April 2004), zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. Nr. L 28443). Danach besteht Anspruch auf beitragsunabhängige Geldleistungen, zu denen nach dem Anhang X Deutschland b) auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende gehören; diese Leistungen sind nach Absatz 4 dieser Vorschrift lediglich nicht exportierbar. Es ist zwar fraglich, ob diese Vorschrift für die Antragstellerin zu 1) anwendbar ist, da sie - möglicherweise - mangels Vorbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland nicht unter den Arbeitnehmerbegriff im Sinne der VO (EG) Nr. 883/2004 fällt, es stellt sich jedoch unter anderem die Frage, ob es nicht widersprüchlich ist, dass eine Leistung, auf die nach einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift ausdrücklich Anspruch besteht, bei der Auslegung einer anderen Vorschrift so verstanden werden kann, dass sie, da sie Sozialhilfe wäre, eigentlich ausgeschlossen wäre. Weiter stellt sich die Frage, ob eine Leistung, die den eigenen Staatsbürgern vorbehaltlos erbracht wird, Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten vorenthalten werden kann oder ob es sich um eine Diskriminierung allein aufgrund der Staatsangehörigkeit handelt. [...]