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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 04.02.2011 - 5390696-423 - asyl.net: M18489
https://www.asyl.net/rsdb/M18489
Leitsatz:

Kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Herat (§ 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG), aber Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da Familie mit zwei Kindern ohne familiären Rückhalt in Afghanistan ihr Existenzminimum nicht sichern kann.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Afghanistan, Kirchenasyl, Griechenland, Italien, Krankheit, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Glaubhaftmachung, Herzerkrankung, sichere Drittstaaten, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Herat, willkürliche Gewalt, Existenzgrundlage, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2
Auszüge:

[...]

Von der Abschiebung in das Herkunftsland ist gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auch abzusehen, wenn die Ausländer als Angehörige der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt sind.

Die durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.08.2007 neu in das AufenthG eingefügte Bestimmung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entspricht nach Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts trotz teilweise geringfügig abweichender Formulierung den Vorgaben des Art. 15 Buchst. c QualfRL. Insbesondere müssen die Gefahren auch infolge willkürlicher Gewalt drohen. Dieses in Art. 15 Buchst. c QualfRL genannte Merkmal ist zwar nicht ausdrücklich in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG übernommen worden, ist aber im Rahmen des Abschiebungsverbots dennoch zu prüfen, da die Begründung zum Entwurf des Richtlinienumsetzungsgesetzes ausdrücklich darauf verweist, dass § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Tatbestandsmerkmale des Art. 15 Buchst. c QualfRL umfasst und den subsidiären Schutz in Fällen willkürlicher Gewalt regelt (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 u.a.).

Im Herkunftsland der Antragsteller oder der Region des Herkunftslandes, aus der die Antragsteller kommen, muss ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegen.

Dies ist vorliegend zu verneinen. Die Frage, ob in einem Staat ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, ist unter Heranziehung seiner Definition als völkerrechtlicher Begriff und Berücksichtigung der vier Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht (GK) vom 12. August 1949 sowie deren Zusatzprotokolle (ZP) 1 und II vom 08. Juni 1977, hier speziell ZP II, zu beantworten.

Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt jedenfalls dann vor, wenn auf dem Gebiet des Herkunftsstaates des Schutzsuchenden Auseinandersetzungen zwischen den nationalen Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und die Verpflichtungen nach den GK erfüllen können. Er liegt nicht vor, wenn es sich nur um innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten, handelt (vgl. Art. 1 Nr. 1 und 2 ZP II).

Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann aber auch dann angenommen werden, wenn innerstaatliche Krisen zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen. Voraussetzung ist dann aber, dass ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit vorliegt. Typische Beispiele hierfür sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 u.a.).

Kriminelle Gewalt findet bei der Feststellung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann keine Berücksichtigung, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien ausgeht (BVerwG a.a.O.).

Angesichts der im Gebiet der Stadt Herat herrschenden Situation ist das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu verneinen.

Im Gegensatz zu den südlichen und östlichen Landesteilen galt Herat in den letzten Jahren als relativ ruhig, obwohl auch hier die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle seit 2006 anstieg. Hierbei handelte es sich zum Teil um Gefechte afghanischer und internationaler Sicherheitskräfte mit aufständischen Gruppen sowie um Anschläge mit improvisierten Bomben, die i.d.R. gegen ausländisches Militär oder Repräsentanten der afghanischen Regierung gerichtet waren, zum anderen Teil aber auch um Raubüberfälle und Entführungen (vgl. SFH-Länderanalyse: Afghanistan: Sicherheitslage in Herat, Bern, 05.05.2010). Bei den letztgenannten Vorfällen kann oft nicht eindeutig zwischen kriminellen Handlungen und solchen im Zusammenhang mit dem Konflikt unterschieden werden. Die Interessen organisierter Banden und der Aufständischen überschneiden sich häufig. So haben etwa die im Drogengeschäft tätigen Gruppen ein ebenso großes Interesse an einer schwachen staatlichen Ordnung wie die Taliban.

Trotz zum Teil gestiegener Vorkommnisse beurteilte die ISAF Herat im Jahr 2009 generell als ruhige Provinz ohne großen Bedarf an afghanischer Truppenpräsenz. Auch die UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) schätzte Herat als eine der ruhigsten Provinzen ein, zumal die Polizei dort akzeptabel funktioniere. Allerdings sei Herat im Jahr 2009 von den westlichen Provinzen Herat, Farah, Baghis und Ghor diejenige mit der zweithöchsten Zahl ziviler Opfer gewesen (vgl. Bericht einer schwedischen Fact-Finding-Mission vom Dezember 2009). Die UN berichten weiterhin, dass in der zweiten Jahreshälfte 2009 die afghanischen Sicherheitskräfte mit ihren internationalen Partnern mehrere Operationen in den Provinzen Herat und Farah durchgeführt hätten, was zu einer verbesserten Stabilität geführt habe (vgl. UN General Assembly, The Situation in Afghanistan and its implications for international peace and security: report of the Secretary General vom 10.03.2010, Az.: A/64/705-S/2010/127). Bereits im Juni 2009 meldeten die UN, dass sich die Sicherheitslage in Herat verbessert habe (vgl. UN General Assembly, The Situation in Afghanistan and its implications for international peace and security: report of the Secretary General vom 23.06.2009, Az.: A/63/892-S/2009/323).

Allerdings gab es auch 2010 weiterhin sicherheitsrelevante Vorkommnisse in der Provinz Herat, was auch für die Zukunft nicht auszuschließen ist. Bei diesen Vorkommnissen handelte es sich um Anschläge, Attentate, Raubüberfälle, Entführungen, Gefechte zwischen Regierungsgegnern und internationalen oder afghanischen Sicherheitskräften aber auch zwischen rivalisierenden Gruppen bzw. Milizen. Betroffen waren praktisch alle Distrikte der Provinz (vgl. The Afghanistan NGO Safety Office (ANSO), The ANSO Reports, www.afgnso.org/index_files/Page548.htm).

Die Situation in der Stadt Herat hingegen wurde im ersten Halbjahr 2010 durchwegs als verhältnismäßig ruhig beschrieben. Lediglich der Flughafen Herat bzw. die dortige Militärbasis wurden vereinzelt ungezielt mit Raketen beschossen. Vor den Parlamentswahlen am 18.09.2010 fanden die Sicherheitskräfte in der Stadt vermehrt Waffen und Sprengstoffe, was einerseits auf ein gewisses Gefährdungspotential schließen ließ, andererseits aber auch die Effektivität der Sicherheitskräfte belegte. Die Sicherheitskräfte konnten jedoch nicht verhindern, dass während des Wahlkampfes Kandidaten und deren Helfer zu Zielen von Anschlägen und Entführungen wurden. Wenige Tage vor der Wahl ereignete sich am Ende eines Konzerts in einem Sportstadion ein Bombenanschlag, bei dem mindestens 13 Menschen verletzt wurden. Im Übrigen ist festzustellen, dass die Kriminalitätsrate hoch ist. Es kommt relativ oft zu Raubüberfällen und Entführungen, insbesondere von lokalen Geschäftsleuten oder Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen. Gezielte Attentate mit Feuerwaffen oder Handgranaten im Rahmen krimineller Auseinandersetzungen kommen ebenfalls vor (vgl. The Afghanistan NGO Safety Office (ANSO), The ANSO Reports, www.afgnso.org/index files/Page548.htm; Uni Kassel, AG Friedensforschung: Afghanistan: Kriegschronik, http:Ilwww.ag-friedensforschung.de/regionen/Afghanistan/kriegschronik/Welcome.html).

Die Auswertung der sicherheitsrelevanten Ereignisse ergibt, dass sich Anschläge und Überfälle gegen afghanische und internationale Sicherheitskräfte richten und Zivilisten eher zufällig in Mitleidenschaft gezogen werden. Opfer von Entführungen werden hauptsächlich Ausländer oder Politiker, jedenfalls soweit in der Presse darüber berichtet wird. Die Sicherheitslage in der Provinz Herat kann daher zumindest für das Gebiet der Hauptstadt Herat als zufriedenstellend betrachtet werden. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es in verschiedenen Distrikten der Provinz Herat Vorkommnisse gibt, die für das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes sprechen, so erreicht das Maß an willkürlicher Gewalt kein so hohes Niveau, dass jeder Rückkehrer allein aufgrund seiner Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. auch VG Hamburg, Urteil vom 22.07.2010, Az.: 19 A 468/09; VG Frankfurt/Main, Urteil vom 01.07.2009, Az.: 7 K 3984/09.F.A). Dies gilt insbesondere für den Bereich der Distriktshauptstadt Herat.

Rückkehrer sind bei einer Einreise nach Afghanistan über Kabul und einer Weiterreise nach Herat nicht auf den unsicheren Landweg angewiesen, sondern haben die Möglichkeit mit dem Flugzeug dorthin zu gelangen (z.B. mit der Fluggesellschaft Pamir Airways, pamireticket.com/newSchedule.aspx). [...]

Es liegt jedoch ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Afghanistan vor.

Von einer Abschiebung soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn den Ausländern eine erhebliche individuelle und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht.

Insofern die Sachvorträge der Antragsteller zu 1. und 2. extrem unglaubhaft sind, kann auch eine Traumatisierung auf diese Ereignisse nicht zurückgeführt werden. Eine Retraumatisierung aufgrund der genannten Umstände kommt somit bei Rückkehr nach Afghanistan nicht in Betracht. Jedoch besteht für die Familie derzeit keine Möglichkeit, in gefestigte Familienverbände innerhalb Afghanistans zurückzukehren, die zumindest einen anfänglichen Rückhalt und die Sicherung der Lebensgrundlage gewährleisten würden. Die Verwandten der Antragsteller leben im Iran. Unter diesen Umständen ist für die Familie mit 2 Kindern die Gefahr gegeben, ihr Existenzminimum in Afghanistan nicht sichern zu können. Unter den derzeitigen Umständen ist somit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. [...]