VG Hannover

Merkliste
Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 12.05.2011 - 1 B 1818/11 [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 260 f.] - asyl.net: M18536
https://www.asyl.net/rsdb/M18536
Leitsatz:

Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Italien bis zum Ablauf von drei Werktagen nach förmlicher Zustellung des Dublin-Bescheids. Die Bekanntgabe des Bescheids hat auch in Dublin-Verfahren grundsätzlich so bald wie möglich, d.h. in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit ihrem Erlass zu erfolgen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Zustellung, effektiver Rechtsschutz, Frist, Ermessen,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 4, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 5, GG Art. 19 Abs. 4, VwVfG § 40
Auszüge:

[...]

Die Regelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG steht der Statthaftigkeit des Antrages nicht entgegen. Zwar bestimmt § 34a Abs. 2 AsylVfG, dass die Abschiebung nach Abs. 1 nicht nach § 80 oder § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung ausgesetzt werden darf. Ein Fall der Abschiebung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG liegt aber nicht vor, weil der Bescheid vom 26. April 2011, mit dem die Abschiebung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG angeordnet wird, (noch) nicht wirksam ist.

Der Bescheid, der zu seiner Wirksamkeit (§ 43 VwVfG) der förmlichen Bekanntgabe (Zustellung) an den Ausländer bedarf (§ 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG i.V.m. § 3 VwZG), ist den Antragstellern bislang nicht förmlich zugestellt worden.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung einer drohenden Gefahr, wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlass der einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm gegenüber dem Antragsgegner ein Anordnungsanspruch zusteht und der Erlass der einstweiligen Anordnung notwendig ist, weil anderenfalls die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung seines Rechtes vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Anordnungsgrund).

Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass ihnen gegenüber der Antragsgegnerin ein Anspruch darauf zusteht, vorläufig von ihrer Überstellung nach Italien abzusehen. Als rechtliche Grundlage für die beabsichtigte Abschiebung der Antragsteller kommt allein die in dem Bescheid vom 26. April 2011 geregelte Abschiebungsanordnung in Betracht. Darauf kann die Antragsgegnerin die beabsichtigte Abschiebung aber nicht stützen, weil die in dem Bescheid geregelte Anordnung der Abschiebung aufgrund der bislang fehlenden förmlichen Bekanntgabe des Bescheides gegenüber den Antragstellern nicht wirksam ist.

Die Praxis des Bundesamtes, den Bescheid nach § 27a, 34a AsylVfG auf der Grundlage der Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 5 AsylVfG - grundsätzlich durch die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde erst am Tag der Abschiebung/Überstellung an den Ausländer zuzustellen, begegnet sowohl im Hinblick auf den Wortlauf der Zustellungsvorschriften (§ 31 Abs. 1 Satz 4 und 5 AsylVfG) als auch im Hinblick auf das verfassungsrechtlich normierte Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) erheblichen rechtlichen Bedenken.

Bei der Zustellungsregelung des § 31 Abs. 1 Satz 5 AsylVfG handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Ihr Ermessen hat die Behörde gemäß § 40 VwVfG entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Davon ausgehend ist die "Praxis des Bundesamtes" nicht von dem Zweck der Ermächtigung des § 31 Abs. 1 Satz 3 bis 5 AsylVfG gedeckt. Diese generelle Vorgehensweise bewegt sich nicht mehr innerhalb der gesetzlichen Grenzen des Ermessens. Auch wenn die Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 4 und 5 AsylVfG keine Frist für die Zustellung des Bescheides enthält und die Vorschrift des § 34a Abs. 2 AsylVfG, der die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes im Fälle der Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG ausschließt, dafür sprechen sollte, dass die Zustellung des Bescheides am Tag der Überstellung ausreiche, verkennt die Praxis der Antragsgegnerin nicht nur das Gebot des effektiven Rechtsschutzes des Art. 19 Abs. 4 GG, sondern auch die Intention, die der Gesetzgeber mit den genannten Regelungen verfolgt.

Ausweislich der amtlichen Begründung liegt den Regelungen der §§ 31 Abs. 1 Satz 4, 5 und 6, 34a AsylVfG der Gedanke zugrunde, dass es sich bei den Verfahren der Rückführung in den Drittstaat (Dublin II-Verfahren (Verordnung EG Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003)) um verkürzte Verfahren handelt, in denen eine Rückführung "regelmäßig nur kurzfristig" durchgeführt werden kann (vgl. BT-Drucks. 12/4450 (23) zu § 31 Abs. 1 Sätze 3 bis 5, § 34a Abs. 1).

Eine "kurzfristige" Zustellung des Bescheides durch die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde zu ermöglichen, ist damit nach dem Willen des Gesetzgebers (nur) in den Fällen geschuldet, in denen eine "frühzeitige" Zustellung des Bescheides durch das Bundesamt wegen der Eigenart des Überstellungsverfahrens (Dublin II Verfahren) aufgrund der kurzfristig anberaumten Rückführung tatsächlich nicht möglich ist. Trifft das - wie im vorliegenden Fall - nicht zu, bleibt es damit dabei, dass die Bekanntgabe des Bescheides grundsätzlich so bald wie möglich, d.h. in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit einem Erlass, zu erfolgen hat.

Dass eine Zustellung des Bescheides sobald als möglich zu erfolgen hat, gebietet auch das verfassungsrechtliche Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG. Dieses garantiert nicht nur die bloße formale Möglichkeit, Gerichte anzurufen, sondern enthält auch den Anspruch, tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle zu erlangen. Der Rechtsschutz darf weder ausgeschlossen, noch in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht gerechtfertigter Weise erschwert werden.

Um dem Anspruch der Antragsteller auf die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes zu sichern, erachtet das Gericht eine Frist von mindestens drei Werktagen, die sich nach den Fristenregelungen der §§ 186 ff. BGB berechnet, in dem hier vorliegenden Einzelfall für noch erforderlich, aber auch angemessen.

Die Antragsteller haben auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht, da beabsichtigt, sie sobald wie möglich nach Italien zu überstellen. [...]