VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 05.11.2010 - 26 K 1914/10.A - asyl.net: M18930
https://www.asyl.net/rsdb/M18930
Leitsatz:

Aufhebung eines Widerrufsbescheids des BAMF für einen als Kind eingereisten Kurden, der inzwischen im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist.

1. Eine nachträgliche Veränderung der Sachlage, namentlich der politischen Verhältnisse und der Menschenrechtssituation in der Türkei, kann die Kammer nicht feststellen.

2. Sind die Sicherheitskräfte gegen den Kläger und seine Familie seinerzeit gezielt mit Schusswaffen vorgegangen, so kann aus den vorliegenden Erkenntnissen nicht geschlossen werden, der Kläger sei heute vor Verfolgung durch türkische Sicherheitskräfte hinreichend sicher. Insoweit ist die Sachlage hier anders als in dem - möglicherweise anders zu beurteilenden - Fall eines Kindes, das ausschließlich aufgrund drohender Sippenhaft als asylberechtigt anerkannt worden ist, wenn sich die Verhältnisse im Heimatland in Bezug auf Sippenhaft entscheidungserheblich geändert haben.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Türkei, Kurden, Flüchtlingsanerkennung, Wegfall der Umstände, Änderung der Sachlage, politische Verfolgung, TKP/ML, Sippenhaft
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Bescheid des Bundesamtes vom 01.03.2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Asylanerkennung und der Flüchtlingseigenschaft des Klägers liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) nicht vor. [...]

Der Kläger hat nach den Feststellungen im bestandskräftigen Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 22.08.1995 die Türkei wegen selbst erlittener und als politische Verfolgung anzusehender staatlicher Übergriffe verlassen. Im Falle einer Rückkehr wäre er vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher. Von diesen bestandskräftigen Feststellungen im Bescheid hat das Gericht auszugehen.

Eine nachträgliche, erhebliche Veränderung der Sachlage, namentlich der politischen Verhältnisse und der Menschenrechtssituation in der Türkei, kann die Kammer nicht feststellen.

Nach Einschätzung der Kammer hat die türkische Reformpolitik bislang nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007 hat der Mentalitätswandel in der Türkei noch nicht alle Teile der Polizei, Verwaltung und Justiz vollständig erfasst und ist es noch nicht gelungen, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden, wobei eine der Hauptursachen für deren Fortbestehen in der nicht ausreichend effizienten Strafverfolgung liegt.

Auch die jüngsten Lageberichte vom 29.06.2009 und vom 11.04.2010 geben keinen Anlass zu einer abweichenden Einschätzung der Gegebenheiten in der Türkei. Denn trotz aller gesetzgeberischer Maßnahmen und einiger Verbesserungen ist es der türkischen Regierung bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Straflosigkeit der Täter in Folterfällen bezeichnet das Auswärtige Amt noch im jüngsten Lagebericht als ein ernstzunehmendes Problem. Willkürliche Festnahmen im Rahmen von Demonstrationen oder Trauerzügen kommen vor. Sie werden von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt. In jüngerer Zeit kam es zu einer Verhaftungswelle gegen Gewerkschaftsmitglieder u.a. wegen angeblicher Unterstützung der terroristischen PKK durch Mitgliedschaft in der zivilen Dachorganisation KCK.

Nicht hinreichend sicher vor Verfolgung sind nach der Rechtsprechung der Kammer auch Personen, die zwar nicht unter PKK-Verdacht stehen, hinsichtlich derer jedoch aufgrund bestandskräftigen Bescheides mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass sie aus politischen Gründen das Interesse der türkischen Sicherheitskräfte auf sich gezogen haben (vgl. Urteile der Kammer vom 22.09.2009 - 26 K 5713/09.A - und vom 23.06.2009 - 26 K 7948/08.A - (jeweils DHKP-C), vom 13.08.2009 - 26 K 3247/09.A - (TKP-ML) und vom 04.09.2009 - 26 K 3058/09 A - (TKIP).

Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn einem aus Sicht der türkischen Sicherheitskräfte regelmäßig strafrechtlich und sicherheitspolitisch uninteressanten klassischen Unterstützer einer nicht der PKK nahestehenden Organisation wegen der Bedeutungslosigkeit und Marginalisierung dieser Organisation bei einer Rückkehr in die Türkei keine menschenrechtswidrige Behandlung (mehr) droht und es ausgeschlossen werden kann, dass es erneut zu Repressionen kommt (vgl. Urteil des erkennenden Einzelrichters vom 26.10.2008 - 20 K 1457/07.A - Juris).

Im vorliegenden Fall besteht kein Grund, von der oben genannten Rechtsprechung abzuweichen.

Der Kläger war bei seiner Einreise zwar minderjährig, ist aber ausweislich des die Asylanerkennung aussprechenden Bescheides vom 22.08.1995 aufgrund selbst erlittener politischer Verfolgungsmaßnahmen - und nicht etwa aufgrund abgeleiteter Verfolgung - als Asylberechtigter anerkannt worden. Allein der Umstand, dass der Kläger seit vielen Jahren in Deutschland lebt, nunmehr erwachsen ist und er sich in Deutschland nicht ansatzweise politisch betätigt hat (vgl. die Ausführungen auf S. 6, letzter Absatz und S. 7 Zeile 1 des angefochtenen Bescheides), stellt keine maßgebliche Änderung der Sachlage dar, die zur Annahme führt, eine politische Verfolgung sei nunmehr mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen. Ist der Kläger schon als Kind in das Sichtfeld der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, so lässt sich gerade nicht mit der gebotenen Sicherheit ausschließen, dass er erst recht als nunmehr erwachsene - und damit im Vergleich zu einem Kind aus Sicht der Sicherheitsbehörden potentiell gefährlichere - Person von Verfolgung bedroht ist. Dies gilt erst recht, als der Kläger nach seinem Vorbringen einer politisch aktiven Familie mit Kontakten zur TKP/ML angehört und die Asylanerkennung seinerzeit vor dem Hintergrund erfolgte, dass der Kläger durch seine Schwester ... - als Vormund - angegeben hatte, sein Vater sei bei einer Schießerei mit den Sicherheitskräften ums Leben gekommen, einer seiner Brüder sei gemeinsam mit zwei politischen Freunden von Sicherheitskräften erschossen worden und bei diesem Vorfall habe auch er - der Kläger - eine Schussverletzung erlitten. Sind die Sicherheitskräfte gegen den Kläger und seine Familie seinerzeit gezielt mit Schusswaffen vorgegangen, so kann aus den vorliegenden Erkenntnissen nicht geschlossen werden, der Kläger sei heute vor Verfolgung durch türkische Sicherheitskräfte hinreichend sicher.

Insoweit ist die Sachlage hier anders als in dem - möglicherweise anders zu beurteilenden - Fall eines Kindes, das ausschließlich aufgrund drohender Sippenhaft als asylberechtigt anerkannt worden ist, wenn sich die Verhältnisse im Heimatland in Bezug auf die Sippenhaft entscheidungserheblich geändert haben (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 07.05.2009 - 8 A 1005/09.A -). [...]