LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.08.2011 - L 15 AS 188/11 B ER - asyl.net: M18979
https://www.asyl.net/rsdb/M18979
Leitsatz:

Im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 der EGV 883/2004 bestehen gravierende Bedenken gegen die Europarechtskonformität des in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 vorgesehenen Leistungsausschlusses für arbeitsuchende Unionsbürger. In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist daher aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: SGB II, Sozialleistungen, Arbeitslosengeld, Existenzminimum, Gewährleistung des Existenzminimums, Leistungsausschluss, Unionsbürger, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Arbeitssuche, europarechtskonform, Europarecht, Unionsbürgerrichtlinie, VO 883/2004, Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherung, Gleichheitsgrundsatz, Arbeitsuche,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt., RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Nach dargestellten Maßstäben waren den Antragstellern im Wege einer Folgenabwägung vorläufig Leistungen nach dem SGB II zur Gewährleistung ihres Existenzminimums zuzusprechen, da ihre Leistungsansprüche im vorliegenden Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden können. Jedenfalls bis zum 30. Juni 2011 (Beginn des mitgeteilten neuen Beschäftigungsverhältnisses am 1. Juli 2011) fiel die Antragstellerin zu 1. in den Anwendungsbereich der Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, da sich ihr Aufenthaltsrecht nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand ausschließlich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. FreizügG/EU). Zwar dürfte die Antragstellerin zu 1. entgegen der im vorliegenden Eilverfahren vertretenen Auffassung des Antragsgegners länger als ein Jahr in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitnehmerin beschäftigt gewesen sein. Arbeitnehmer i. S. des Freizügigkeitsrechts ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) auch derjenige, der nur über ein geringfügiges, das Existenzminimum nicht deckendes, Einkommen verfügt. Das BSG hat insoweit eine Beschäftigung ausreichen lassen, mit der ein monatliches Entgelt von 100,- EURO erzielt wurde (Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R -, Rn. 18 mit Nachw. aus der Rspr. des EuGH). Nach diesen Kriterien war die Antragstellerin zu 1. während ihrer Tätigkeit bei der Firma Q. auch in dem Zeitraum, in dem sie nur geringfügig beschäftigt war, Arbeitnehmerin i. S. des § 2 Abs. 2 Nr. 1 1. Alt. FreizügG/EU. Hiervon geht der Antragsgegner auch im Hauptsacheverfahren aus, wenn es im Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2011 heißt, die Antragstellerin zu 1. sei unstreitig mehr als ein Jahr erwerbstätig gewesen. Demgemäß verneint der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid ein fortbestehendes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin auch nur deshalb, weil es sich nicht um eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit handele. Das Vorliegen dieses für das Fortbestehen des Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmerin erforderlichen Tatbestandsmerkmals (§ 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU) hat die Antragstellerin zu 1. indes auch im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht glaubhaft gemacht. Zwar liegt eine arbeitgeberseitige Kündigung vor, sodass danach grundsätzlich von einem unfreiwilligen Verlust des Arbeitsplatzes ausgegangen könnte. Allerdings wird als Kündigungsgrund das unentschuldigte Fernbleiben vom Arbeitsplatz angegeben. Dies könnte auf eine freiwillige Aufgabe des Arbeitsplatzes hindeuten. Insoweit wäre es Sache der Antragstellerin zu 1. gewesen, ihr Vorbringen, wonach sie aufgrund erlittener häuslicher Gewalt ihre Arbeitsstelle nicht habe aufsuchen können, durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung glaubhaft zu machen (vgl. Verfügung des Berichterstatters vom 11. Juli 2011). Dies ist nicht erfolgt. Nach alledem sind gegenwärtig die Voraussetzungen für ein Fortbestehen des Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmerin nicht glaubhaft gemacht, sodass für die hier zu treffende Entscheidung (für die Zeit bis zum 30. Juni 2011) nur von einem Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) zum Zwecke der Arbeitsuche ausgegangen werden kann. Gleiches gilt (ohne zeitliche Einschränkung) für die Antragsteller zu 2. und 3., für die die Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit nicht behauptet wird. Selbst wenn die Antragstellerin zu 1. Arbeitnehmerin wäre, hätte der Antragsteller zu 2. als ihr Partner kein hiervon abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger nach § 3 FreizügG/EU. Denn Familienangehöriger ist nach Artikel 2 Nr. 2 a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürgerrichtlinie), nur der Ehegatte. Nach dem Inhalt der vorliegenden Akten sind die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 2. nicht miteinander verheiratet.

Für die Zeit ab dem 1. Juli 2011 hat die Antragstellerin zu 1. allerdings durch Vorlage einer Kopie des Arbeitsvertrags glaubhaft gemacht, dass sie erneut Arbeitnehmerin ist. Als solche ist sie dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II. Auch wenn nach alledem die Antragstellerin zu 1. für die Zeit bis zum 30. Juni 2011 und die Antragsteller zu 2. und 3. für den gesamten, von der einstweiligen Anordnung umfassten Zeitraum (7. April bis 7. Oktober 2011) in den Anwendungsbereich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II fallen, hat das SG zu Recht aufgrund einer Folgenabwägung zugunsten der Antragsteller entschieden. Denn es ist zweifelhaft, ob der in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vorgesehene Leistungsausschluss für arbeitsuchende Unionsbürger (noch) europarechtskonform ist. In einer Vielzahl von Entscheidungen der Landessozialgerichte in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und im Schrifttum wird diese Frage mit uneinheitlichen Begründungen bejaht oder verneint (vgl. die umfangreichen Nachweise im Senatsbeschluss vom 26. Februar 2010 - L 15 AS 30/10 B ER). Umstritten ist dabei insbesondere, ob Artikel 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie gegen Europäisches Primärrecht verstößt und das Arbeitslosengeld II als Sozialhilfe i. S. dieser Vorschrift anzusehen ist. Eine höchstrichterliche Klärung dieser schwierigen und komplexen Rechtsfragen steht bislang aus. Vor diesem Hintergrund haben die Landessozialgerichte - soweit ersichtlich - in jüngster Zeit in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ganz überwiegend aufgrund einer Folgenabwägung zugunsten der Antragsteller entschieden (vgl. Beschlüsse des LSG Berlin-Brandenburg vom 30. November 2010 - L 34 AS 1501/10 B ER, L 34 AS 1518/10 B PKH -, vom 17. Mai 2011 - L 28 AS 566/11 B ER - und vom 30. Juni 2011 - L 25 AS 535/11 B ER -; Beschluss des Bayerischen LSG, Beschluss vom 22. Dezember 2010 - L 16 AS 767/10 B ER - sowie Beschluss des Hessischen LSG vom 14. Juli 2011 - L 7 AS 107/11 B ER-). Demgemäß erscheint auch im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Klärung der komplexen europarechtlichen Fragestellungen nicht möglich; diese muss vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Zwar hat der Senat in dem bereits zitierten Beschluss vom 26. Februar 2010 die Auffassung vertreten, dass die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II europarechtskonform ist. Dieses Ergebnis wird aber nunmehr in Frage gestellt durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die nach ihrem Art. 91 am Tag des Inkrafttretens der Durchführungsverordnung (1. Mai 2010, vgl. Art. 97 der Verordnung [EG] Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung [EG] Nr. 883/2004) Gültigkeit erlangt hat und damit an die Stelle der VO (EWG) 1408/71 getreten ist. Nach Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Nach Artikel 3 Abs. 3 gilt diese Verordnung auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gem. Artikel 70. Hierzu zählen nach dem Anhang X (in der Fassung der Verordnung [EG] Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Änderung der Verordnung [EG] Nr. 883/2004 und zur Festlegung des Inhalts ihrer Anhänge) in Deutschland die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Artikel 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt, dass die Verordnung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen gilt. Die Antragsteller dürften damit als Unionsbürger vom persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung erfasst sein. Bei summarischer Prüfung - wie sie angesichts der Komplexität der europarechtlichen Fragestellungen im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglich ist - spricht vieles dafür, dass der in der § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vorgesehene Leistungsausschluss für arbeitsuchende Unionsbürger gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 verstößt (in diesem Sinne auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. November 2010 - L 34 AS 1501/10 B ER, L 34 AS 1518/10 B PKH -, Rdnr. 38; SG Berlin, Urteil vom 24. Mai 2011 - S 149 AS 17644/09 -, Rdnr. 31; Hessisches LSG, Beschluss vom 14. Juli 2011 - L 7 AS 107/11 B ER -, Rdnr. 17 ff.).

Die danach namentlich im Hinblick auf die seit dem 1. Mai 2010 geltende Verordnung (EG) Nr. 883/2004 bestehenden gravierenden Bedenken gegen die Europarechtskonformität der in Rede stehenden Ausschlussklausel für arbeitsuchende Unionsbürger führen dazu, dass die Entscheidung im Hauptsacheverfahren als offen zu bezeichnen ist. Nach den dargestellten Grundsätzen ist bei dieser Sachlage anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, die hier zugunsten der Antragsteller ausfallen muss. Denn im Falle der Ablehnung ihres Antrags drohen ihnen existenzielle Nachteile, da sie nach dem Erkenntnisstand dieses Eilverfahrens nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen oder Vermögen zu bestreiten. Das allein fiskalische Interesse des Antragsgegners muss hinter diesen gravierenden Nachteilen zurücktreten. [...]