VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 23.08.2011 - 35 K 414.10 V - asyl.net: M19005
https://www.asyl.net/rsdb/M19005
Leitsatz:

1. Ein von einem peruanischen Gericht anerkannter Vergleich, mit dem die Custodia y Tenencia auf ein Elternteil übertragen worden ist, ist als Übertragung des alleinigen Sorgerechts nach § 32 Abs. 3 AufenthG anzuerkennen.

2. Ausländische Sorgerechtsentscheidungen sind nur dann wegen Verstoßes gegen den ordre public unbeachtlich, wenn sie offenkundig mit dem Kindeswohl unvereinbar und die Entscheidung untragbar sind.

3. Eine fehlende Anhörung eines 11-jährigen Kindes im ausländischen Sorgerechtsverfahren ist bei einer einvernehmlichen Sorgerechtsübertragung kein Verstoß gegen den ordre public, wenn keine offenkundige Beeinträchtigung des Kindeswohls vorliegt.

4. Der Lebensunterhalt des nachzugswilligen Kindes muss bei Überschreiten der Altersgrenze auch vorher gesichert gewesen sein. Zwischenzeitliche Einkommensschwankungen sind jedoch unerheblich, solange der Lebensunterhalt jedenfalls auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wieder gesichert ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Kindernachzug, minderjährig, allein personensorgeberechtigter Elternteil, gewöhnlicher Aufenthalt, ausländische Sorgerechtsentscheidung, ordre public, Sicherung des Lebensunterhalts
Normen: AufenthG § 6 Abs. 4, AufenthG § 32 Abs. 3
Auszüge:

[...]

" [...] Nach alledem liegt ein Verstoß gegen den deutschen ordre public erst vor, wenn das Ergebnis in einem so starken Widerspruch zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen steht, dass es nach inländischen Vorstellungen untragbar erscheint (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 1986 - 1 B 20/86 -, juris Rn. 6 ff. = FamRZ 1986, 351; BGH, Beschluss vom 18. September 2001, NJW 2002, 960, 961; BGH, Urteil vom 21. April 1998, BGHZ 138, 331, 334; Bumiller/Harders, Freiwillige Gerichtsbarkeit FamFG, 9. Aufl., § 109 Rn. 9).

Eine offensichtliche Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts kommt sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht in Betracht. Aus verfahrensrechtlichen Gründen kann einer ausländischen Entscheidung die Anerkennung dann zu versagen sein, wenn das Verfahren von den Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts in einem solchen Maße abweicht, dass nach der deutschen Rechtsordnung nicht mehr von einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren ausgegangen werden kann (vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 1986 - 1 B 20/86 -, juris Rn. 10 m.w.N. = FamRZ 1986, 381). In materiell-rechtlicher Hinsicht ist zu prüfen, ob die Entscheidung in der Sache selbst gegen rechtliche Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung verstößt. Prüfungsmaßstab sind in beiden Fällen vor allem auch die Grundrechte.

Überträgt man dies auf ausländische Sorgerechtsentscheidungen, so kann ein Verstoß gegen den ordre public insbesondere dann gegeben sein, wenn das Ergebnis der ausländischen Sorgerechtsentscheidung mit den Grundwerten des deutschen Kindschaftsrechts offensichtlich unvereinbar ist. Hierzu zählt vor allem das Wohl des Kindes, dessen Beachtung einen wesentlichen und unverzichtbaren Grundsatz des deutschen Familien- und Kindschaftsrechts bei allen Entscheidungen über das Sorgerecht darstellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. September 2006 – 2 BvR 2216/05 -, juris Rn. 15; BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2010 - 1 BvR 374/09 – NJW 2010, 2333 ff.; s. z.B. auch §§ 1626 Abs. 3, 1666, 1696 Abs. 1, 1697 a BGB). [...]

In verfahrensrechtlicher Hinsicht begründet die fehlende Anhörung des damals erst 11-jährige Klägers keinen Verstoß gegen den ordre public.

Zwar handelt es sich bei der Anhörung des Kindes im Sorgerechtsverfahren um einen Verfahrensgrundsatz mit Verfassungsrang, der die Stellung des Kindes als Subjekt im Verfahren, seine Grundrechte und sein rechtliches Gehör schützt (vgl. BVerfG, BVerfGE 64, 180, 191. 55, 171, 180, 182 f., FamRZ 2007, 1078). Durch die Anhörung wird das Gericht in die Lage versetzt, sich einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind, dessen Wohl das Verfahren sichern soll, zu verschaffen (vgl. BVerfG. BVerfGE 171, 180). Das deutsche Recht sieht aber auch in § 159 FamFG (bis zum 31. August 2009 in § 50 b FGG) eine obligatorische Anhörung des Kindes im gerichtlichen Sorgerechtsverfahren nur dann zwingend vor, wenn das Kind das 14. Lebensjahr vollendet hat, es sei denn, dass schwerwiegende Gründe gegen eine Anhörung sprechen (§ 159 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 FamFG). Hat das Kind das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet, ist es persönlich anzuhören, wenn die Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind, oder wenn eine persönliche Anhörung aus sonstigen Gründen angezeigt ist (§ 159 Abs. 2 FamFG). Von der Anhörung darf nur aus schwerwiegenden Gründen abgesehen werden (§ 159 Abs. 3 FamFG). Unterbleibt die Anhörung nur wegen Gefahr im Verzug, so ist sie unverzüglich nachzuholen (§ 159 Abs. 3 Satz 2 FamFG). Der Gesetzgeber hat neben der Anhörung auch die Möglichkeit geschaffen, einen Verfahrensbeistand zu bestellen (§ 158 FamFG), der bei der persönlichen Anhörung anwesend sein soll.

Diese differenzierten Regelungen zeigen, dass die Anhörung des Kindes auch nach deutschem Recht nicht in allen Fällen obligatorisch ist, sondern je nach Alter des Kindes und nach den Umständen des Einzelfalls von der Anhörung des Kindes abgesehen werden kann. [...]

Die gegenteilige Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (a.a.O., Rn. 29, 32 ff.), dass eine fehlende Anhörung eines Kindes, auch wenn es das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, generell mit dem deutschen Kindschaftsrecht "nicht einmal ansatzweise vereinbar" sei, überspannt die vom Gesetzgeber gestellten, differenzierten Anforderungen an eine Kindesanhörung und ist auch mit der Praxis der deutschen Familiengerichte nicht in Einklang zu bringen. Dafür, dass unter dem Blickwinkel eines aufenthaltsrechtlichen Verfahrens (oder gar im Interesse einer Zuwanderungsbeschränkung) strengere Anforderungen an eine ausländische Sorgerechtsentscheidung im Hinblick auf eine Kindesanhörung gestellt werden können, als sie nach dem deutschen Familienrecht gelten, ist nichts ersichtlich. [...]

Am Rande sei notiert, dass die gesetzgeberische Wertungsentscheidung des § 32 Abs. 3 AufenthG, ein Aufenthaltsrecht aufgrund einer anzuerkennenden (ausländischen) Sorgerechtsentscheidung zu gewähren, gegenüber der früheren Regelung des § 20 Abs. 3 AuslG, die noch eine eigenständige Kindeswohlbetrachtung im aufenthaltsrechtlichen Verfahren im Rahmen des Ermessens vorsah, hinzunehmen ist und nicht "durch die Hintertür" durch zu geringe Anforderungen an den ordre public Vorbehalt wieder eingeführt werden kann. Soweit sich eine gesetzgeberische Entscheidung in der Praxis nicht bewährt, ist es Sache des Gesetzgebers, diese ggf. zu ändern. Für eine richterliche Rechtsfortbildung ist hier kein Raum. Die aufenthaltsrechtlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, die Zuwanderung älterer Kinder nach Deutschland zu beschränken oder zu verhindern, sind im Rahmen einer Sorgerechtsentscheidung ohne Belang und lassen sich auch nicht durch eine eigenständige, aufenthaltsrechtliche Würdigung des "Kindeswohls" allein nach Aktenlage und ohne Anhörung des Kindes durchsetzen. Zudem entwertet diese Betrachtungsweise die Autorität ausländischer gerichtlicher Entscheidungen. Daher überzeugen auch die abweichenden Entscheidungen anderer Kammern des Verwaltungsgerichts Berlin (VG 9 K 135.09 V, VG 21 K 126.09 V und VG 34 K 448.09 V) nicht - wie selbst schon das OVG Berlin Brandenburg (a.a.O., Rn. 22) zum Ausdruck bringt - die die ausländische Sorgerechtsentscheidung auf ihre inhaltliche Richtigkeit und Überzeugungskraft, die Dauer des Verfahrens und die nach ihrer Auffassung gebotene Sachaufklärung gleichsam einem Revisionsgericht inhaltlich überprüfen. Insbesondere lässt sich über den auch im Familienrecht geltenden Amtsermittlungsgrundsatz keine offensichtliche Unvereinbarkeit der ausländischen Sorgerechtsentscheidung ableiten, wenn – wie hier – die Parteien vor Gericht eine einvernehmliche Regelung anstreben. Es ist vielmehr allgemeinkundig, dass auch in deutschen Familiengerichten einvernehmliche Sorgerechtsregelungen der Parteien im Rahmen des nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Elternrechts akzeptiert werden, ohne diese durch ausforschende, weitere Ermittlungen in Frage zu stellen, solange sich keine gegenteiligen Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung des Kindeswohls ergeben. [...]

Diese weitere Voraussetzung lag hier jedoch vor. Denn zum Zeitpunkt der Antragstellung am 4. September 2009 war der Lebensunterhalt des Klägers ebenso gesichert. Von einer Umgehung der Altersgrenze kann daher nicht die Rede sein. Auf die Frage, ob der Lebensunterhalt auch während des gesamten Verfahrens gesichert worden wäre, kommt es nicht an. Nach dem Sinn und Zweck des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kommt es allein darauf an, dass der Lebensunterhalt zum Zeitpunkt des beabsichtigten Aufenthalt in Deutschland gesichert ist, um zusätzliche Sozialausgaben durch den Nachzug zu vermeiden. Daher ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Prognose zu treffen, ob der Lebensunterhalt bei unverändertem Sachverhalt gesichert ist.

Kurzfristige zwischenzeitliche Schwankungen des Einkommens im Laufe des Verfahrens sind dagegen unerheblich, wenn der Lebensunterhalt jedenfalls vor Erreichen der Altersgrenze bei der Antragstellung gesichert war und zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch gesichert ist. Daher kann offen bleiben, ob der Lebensunterhalt in der Zeit von Mai 2010 bis August 2010 gesichert gewesen wäre. Im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze am 16. August 2010 war der Lebensunterhalt ohnehin wieder gesichert, weil die Mutter des Klägers bereits den Arbeitsvertrag bei der Familie L… in Aussicht hatte und nur zwei Wochen nach dem Erreichen der Altersgrenze wieder ausreichendes Einkommen erzielt hat. [...]