VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 13.09.2011 - 1 K 1314/10.TR - asyl.net: M19012
https://www.asyl.net/rsdb/M19012
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr im Irak aufgrund von Putztätigkeit für die US-amerikanischen Streitkräfte.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Irak, Kurden, Zentralirak, Kirkuk, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 15. November 2010 war in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben und dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da ihm bei Rückkehr in den Irak politische Verfolgung droht. [...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Kläger den Irak aufgrund drohender individueller politischer Verfolgung verlassen und unter Berücksichtigung der Vermutungswirkung des Artikel 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie droht ihm nach Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr in den Irak erneute Verfolgung.

Der Kläger hat glaubhaft eine individuelle politische Verfolgung seiner Person vor seiner Ausreise durch nichtstaatliche militante Kräfte bekundet. Nachvollziehbar und lebhaft hat er geschildert, wegen seiner Tätigkeit im Putzdienst bei der amerikanischen Airbase Kirkuk einen Drohbrief der islamistischen Gruppe Al-Sunna erhalten zu haben, in welchem er als todeswürdiger Verräter bezeichnet wurde. Diesbezügliche Oberflächlichkeiten und Ungereimtheiten in seinem Vorbringen vor dem Bundesamt hat der Kläger nunmehr in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer ausgeräumt. Seine Schilderungen, die Airbase, seinen dort zu verrichtenden Dienst und die Drohungen betreffend, sind sehr detailreich und lebensnah. Es ist auch durchaus nachvollziehbar, dass der Kläger durch seine Dienste bei den US-amerikanischen Streitkräften in das Visier militanter Kräfte und terroristischer Gruppierungen geraten ist, weil er damit in deren Augen zu einem Unterstützer der amerikanischen Besatzer wurde. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes geht ein Großteil der Menschenrechtsverletzungen, Verfolgungen und Repressionen von militanten oppositionellen Kräften, von Milizen und terroristischen Gruppierungen aus. Neben Funktionären und Amtsträgern des irakischen Staates haben sie auch Vertreter der US-Truppen im Visier. Auch Zivilisten, die für internationale Regierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten, werden immer wieder zur Zielscheibe von Aufständischen (vgl. hierzu Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. November 2010). Daher ist es auch nachvollziehbar, dass der Kläger nach den Drohungen den Irak verlassen hat, ohne das Gerichtsverfahren abzuwarten. Die Kammer geht auch davon aus, dass sich die frühere Bedrohung des Klägers bei einer Rückkehr in den Irak wiederholen wird. Eine Person, die als Unterstützer der US-Truppen gilt, dürfte den militanten nichtstaatlichen Kräften nach dem relativ kurzen Zeitraum von anderthalb bis zwei Jahren noch gut in Erinnerung geblieben sein, so dass die Bedrohungslage bei einer Rückkehr erneut gegeben ist. Dass der Kläger nunmehr nicht mehr auf der Airbase tätig ist, bedeutet nicht ohne Weiteres, dass für die Terroristen kein Grund für ein weiteres Vorgehen besteht. Immerhin gehen die Terroristen gegen Unterstützer der Amerikaner aus politischen Gründen vor und nicht allein deshalb, um die konkrete Tätigkeit zu unterbinden. Der Kläger soll deshalb getroffen werden, weil ihm jedenfalls die mittelbare Unterstützung der US-amerikanischen Irak-Politik unterstellt wird. Schutz durch die Behörden kann der Kläger in seinem Fall bei einer Rückkehr nicht erwarten. Die Behörden sind nämlich vielerorts nicht in der Lage, für Recht und Ordnung zu sorgen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O.). Die staatliche Schutzgewährung entspricht allenfalls Mindestanforderungen, weil es einen eklatanten Mangel an Richtern, Staatsanwälten und Justizbeamten gibt und der Zugang zu staatlichem Schutz von den irakischen Sicherheitskräften nicht landesweit garantiert werden kann.

Der Kläger kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 letzter Halbsatz AufenthG verwiesen werden. Eine Übersiedlung in die unter kurdischer Autonomie stehenden Provinzen des Nord-Irak scheidet für ihn schon deshalb aus, weil er dort über keine verwandtschaftlichen Beziehungen verfügt. Auch sind die Behörden dort mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert (vgl. hierzu: Lagebericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O.). Ohne familiäre Beziehungen ist ein die Existenz sicherndes Auskommen im Nord-Irak nicht möglich. [...]