OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 26.09.2011 - 3 A 356/11 - asyl.net: M19067
https://www.asyl.net/rsdb/M19067
Leitsatz:

Asylwiderrufsverfahren: Hinsichtlich des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für die Verfolgungsprognose in asylrechtlichen Widerrufsverfahren schließt sich das OVG des Saarlandes der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts mit Urteil vom 01.06.2011 - 10 B 10.10 u. 10 C 25.10 - an (S. 6). Die Frage, ob die Veränderung der Umstände in der Türkei so erheblich und nicht nur vorübergehend ist, dass eine Furcht vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann, ist nur individuell zu beantworten (S. 7 f.). - Es ist eine Frage des Einzelfalles, ob sich jemand exilpolitisch exponiert hat.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Türkei, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Änderung der Sachlage, Wegfall der Umstände, Exilpolitik, HADEP, Berufungszulassungsantrag
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 2 Bst. c
Auszüge:

[...]

Ausgehend davon bietet die erste Frage, welcher Prognosemaßstab in asylrechtlichen Widerrufsverfahren Anwendung findet, schon deshalb keinen Anlass zur Zulassung der Berufung, weil diese Frage in der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits hinreichend geklärt ist und keiner weiteren Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.

Mit Urteilen vom 1.6.2011 - 10 C 10.10 und 10 C 25.10 - (juris) hat das Bundesverwaltungsgericht hierzu ausgeführt, dass sich die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft grundsätzlich spiegelbildlich zur Anerkennung verhalte. Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft könne seit Umsetzung der in Art. 11 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten werden. Das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelte materiell-rechtliche Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose sei der Richtlinie 2004/83/EG fremd. Sie verfolge vielmehr bei einheitlichem Prognosemaßstab für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der Nachweispflicht der Mitgliedsstaaten nach Art. 14 Abs. 2 und der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zum Ausdruck komme. Demzufolge gelte unionsrechtlich beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung erlitten habe. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiere sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und entspreche dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

Dieser neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat sich auch das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes mit Urteilen vom 25.8.2011 - 3 A 34/10 und 3 A 35/10 - angeschlossen.

Eine Abweichung der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts von der dargestellten neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eben falls nicht erkennbar; vielmehr hat das Verwaltungsgericht diese dem angefochtenen Urteil ausdrücklich zugrunde gelegt, auch wenn es sich dazu im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nur auf die damals erst veröffentlichte Presseerklärung des Bundesverwaltungsgerichts stützen konnte.

Die vom Kläger des Weiteren als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage, ob die Veränderung der Umstände in der Türkei so erheblich und nicht nur vorübergehend ist, dass eine Furcht vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann, rechtfertigt eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache ebenfalls nicht. Denn die vorgenannte Frage würde sich in dieser Form und Allgemeinheit in dem angestrebten Berufungsverfahren nicht stellen. In einem nach Zulassung der Berufung durchzuführenden Rechtsmittelverfahren wäre vielmehr zu prüfen, ob gerade mit Blick auf die konkreten Umstände, die zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers geführt haben, die Voraussetzungen für einen Widerruf gem. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vorliegen.

Nach den entsprechenden unionsrechtlichen Vorgaben müssen sich die zuständigen Behörden und Gerichte mit Blick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern, dass die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert, haben und als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.2.2011 - 10 C 5.10 - sowie EuGH, Urteil vom 2.3.2010 - C 175/08 u.a. -; juris).

Der anzuwendende Maßstab ist somit ein individueller, d.h. bezogen auf den konkreten Ausländer, der als Flüchtling anerkannt worden ist, und dem dieser Status entzogen werden soll. Das bedeutet: In Abhängigkeit von den Umständen, die zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus geführt haben, sind auch die Anforderungen an die Verbesserung der Verhältnisse, im Heimatstaat und die Frage der Gefährdung im Falle einer Rückkehr im Grundsatz individuell unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles zu beurteilen (vgl. Urteile des Senats vom 25.8.2011 - 3 A 34/10 und 3 A 35/10 -; OVG Hamburg, Beschluss vom 4.11.2010 - 4 Bf 113/09.AZ -; OVG Lüneburg, Beschluss vom 11.11.2009 - 4 LA 78/09 - und vom 22.6.2009 - 7 LA 132/08 -; OVG Schleswig, Beschluss vom 5.10.2009 - 4 LA 73/09; OVG Greifswald, Beschluss vom 20.11.2007 - 2 L 152/07 -; jeweils juris; sowie Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Oktober 2010, § 73 Rz 19).

Demzufolge geht es auch im vorliegenden Verfahren nicht darum, ob der Reformprozess in der Türkei durchgängig zu einer solchen Verbesserung der Menschenrechtslage geführt hat, dass vorverfolgt ausgereiste Asylbewerber generell bei einer Rückkehr in die Türkei keine weitere Verfolgung mehr zu befürchten haben, sondern um die Frage, ob sich die Verhältnisse, die die Verfolgungsfurcht gerade des Klägers begründeten, erheblich und nicht nur vorübergehend verbessert haben und deshalb jedenfalls in seinem Falle keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verfolgung mehr besteht. So hat der Senat auch bereits in seinen Urteilen vom 25.8.2011 - 3 A 34/10 und 3 A 35/10 - betreffend Widerrufsverfahren türkischer Staatsangehöriger im Einzelnen ausgeführt, dass für den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung nicht die Feststellung erforderlich ist, dass im Heimatland des betroffenen Ausländers - hier der Türkei - seit der Anerkennung derartige Veränderungen stattgefunden haben, dass es dort nunmehr ausnahmslos oder zumindest bei allen Angehörigen der Gruppe, der der betroffene Ausländer angehört, zu keinen asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Übergriffen mehr kommt.

Der anzuwendende individuelle Prüfungsmaßstab schließt es allerdings nicht aus, dass unter besonderen Umständen eine Individualprüfung des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung unter Würdigung der allgemeinen Entwicklung in einem Herkunftsstaat für eine größere Zahl von gleich liegenden Fällen verallgemeinerungsfähig ist, wenn und soweit in all diesen Fällen gleich liegende Umstände zur Gewährung des Flüchtlingsstatus geführt haben und personenbezogene Besonderheiten daneben nicht entscheidungsrelevant sind.

Das Vorliegen einer solchen Konstellation hat der Kläger jedoch nicht dargetan und ist auch nicht erkennbar. Die oben genannte, als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Frage bezieht sich vielmehr ganz allgemein darauf, ob sich die Verhältnisse in der Türkei generell derart verändert haben, dass eine Furcht vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Im vorliegenden Verfahren kommt es aber allein darauf an, ob angesichts der Verbesserung der Menschenrechts- und Sicherheitslage in der Türkei dem Kläger weiterhin eine Gefährdung wegen seines vor seiner Ausreise aus der Türkei gezeigten Einsatzes für die kurdische Sache bzw. mit Blick auf die von ihm konkret angeführten exilpolitischen Aktivitäten droht. Dabei handelt es sich aber - wovon auch das Verwaltungsgericht ausgegangen ist - um eine individuell zu beantwortende Frage.

Auch die dritte vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage, unter welchen Voraussetzungen für einen Asylbewerber aufgrund exilpolitischer Aktivitäten ein relevanter Nachfluchtgrund zur Seite stehe, bietet keinen Anlass, die Berufung zuzulassen. In der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes ist nämlich geklärt, dass nur eine exponierte exilpolitische Betätigung, insbesondere eine Tätigkeit in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation bzw. besonders publizitätsträchtige Aktivitäten im Falle einer Rückkehr eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr begründet (vgl. etwa Urteile vom 25.8.2011 - 3 A 34/10 und 3 A 35/10 -; vom 3.4.2008 - 2 A 312/07 - und vom 28.9.2005 - 2 R 1/05 -).

Ob für den jeweiligen Asyl suchenden Ausländer nach den konkreten Umständen seiner Betätigung mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass er sich derart exilpolitisch exponiert hat, dass erwartet werden kann, seine eigene Betätigung sei von der türkischen Auslandsbeobachtung als türkeikritisch - d.h. als kurdisch-separatistisch oder linksextremistisch - angesehen und erfasst worden, sowie ob auch eine genügende Identifizierung als beachtlich wahrscheinlich erscheint, ist dabei nicht weiter allgemein klärungsfähig, vielmehr eine Frage der Einzelfallwertung (vgl. OVG des Saarlandes, Urteil vom 16.12.2004 - 2 R 1/04 sowie Beschlüsse vom 29.4.2003 - 2 Q 116/03 und vom 10.4.2003 - 2 Q 110/03). [...]