OLG Hamburg

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Zitieren als:
OLG Hamburg, Beschluss vom 15.12.2011 - Ausl 27/10; Ausl 67/10 - asyl.net: M19275
https://www.asyl.net/rsdb/M19275
Leitsatz:

1. Keine Auslieferung eines transsexuellen Slowaken, der in Haft in der Slowakischen Republik schwer misshandelt wurde und für den bei Auslieferung Suizidgefahr besteht.

2. Keine Rechtshilfe im Rahmen des Europäischen Haftbefehls, wenn ein Verstoß gegen die EMRK droht.

Schlagwörter: Slowakische Republik, Auslieferung, Europäischer Haftbefehl, Suizidgefahr, Transsexuelle, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
Normen: IRG § 33, EUV Art. 6 Abs. 3, EMRK Art. 2, IRG § 73
Auszüge:

[...]

Nachdem der Senat die Auslieferung des Verfolgten an die Slowakische Republik zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der in den Europäischen Haftbefehlen des Amtsgerichts Trnava vom 17. Februar 2010 (Az.: 30T/49/2008) und des Amtsgerichts Trencin vom 3. März 2010 (Az.: 2T/25/2008) bezeichneten Tatvorwürfe durch die Beschlüsse vom 30. April 2010 (Ausl 27/10) und vom 3. November 2010 (Ausl 67/10) für zulässig erklärt hatte, sind neue Umstände im Sinne des § 33 Abs. 1 IRG eingetreten, zumindest aber nachträglich bekannt geworden (§ 33 Abs. 2 IRG), die eine erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung erfordern. Die nachträglich eingetretene oder jedenfalls nachträglich durch Einreichung einer am 1. Juni 2011 verfassten, dem Senat erst am 19. Oktober 2011 übersandten psychologischen Beurteilung durch die Diplom-Psychologin ... und durch ein daraufhin eingeholtes psychiatrisches Kurzgutachten des Dr. med. ... vom 17. November 2011 bekannt gewordene schwere posttraumatische Belastungsstörung sowie die schwere Depression des Verfolgten lassen mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung in die Slowakische Republik und die sich anschließende Haft Suizid begehen wird. Diese ernsthafte und konkrete - nicht nur vorübergehende - Lebensgefahr stellt ein Auslieferungshindernis dar.

I. Einer erneuten Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nach § 33 IRG steht nicht entgegen, dass die Justizbehörde in dem Verfahren Ausl 27/10 bereits am 12. Mai 2010 die Auslieferung bewilligt und dies gegenüber dem Amtsgericht Trnava ausdrücklich erklärt hat. Auch wenn dadurch ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag über die Auslieferung zustande gekommen ist (vgl. BVerfGE 50, 244, 248 f.), bedeutet dies nicht, dass die Bundesrepublik Deutschland zwingend und ausnahmslos an die einmal erteilte Bewilligung der Auslieferung gebunden wäre und sich selbst dann nicht von dieser Verpflichtung lösen dürfte, wenn bisher nicht berücksichtigte wesentliche Umstände - hier sogar elementare Grundrechte des Verfolgten - der Auslieferung entgegenstehen. Der Senat folgt der Auffassung von Böhm (in Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 33 IRG Rn. 7 und 8), der unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte des § 33 IRG (BT-Drucks. 9/1138 S, 32) zutreffend ausgeführt hat, dass die Bewilligungsbehörde auch nach der Bewilligung gehalten ist, bis zur Übergabe des Verfolgten an die Behörde des ausländischen Staates zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Auslieferung zutreffend beurteilt worden sind und ob sie fortbestehen. Im Übrigen steht die völkerrechtlich eingetretene Bindungswirkung unter dem Vorbehalt, dass die Auslieferung mit den innerstaatlichen Auslieferungsvorschriften in Einklang steht, so dass die Geschäftsgrundlage für den völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag entfällt, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Auslieferung unzulässig ist (Böhm, a.a.O., § 33 IRG, Rn. 8 m.w.N.) Das gilt nach Ansicht des Senats jedenfalls dann, wenn die Auslieferung zu den in Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde (§ 73 S. 2 IRG), zu denen nach Art. 6 Abs. 3 EUV die durch die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützten Rechte - wie das Recht auf Leben (Art. 2 MRK) - gehören. Es verstieße gegen den europäischen "ordre public", wenn ein Verfolgter trotz akuter Lebensgefahr durch einen psychisch bedingten hochwahrscheinlichen Suizid ausgeliefert werden würde.

II. Die erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung ergibt, dass ein Auslieferungshindernis besteht. Denn der Verfolgte leidet unter einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung, aufgrund derer sein Leben im Falle einer Auslieferung akut durch Suizid bedroht ist. Dabei ist es unerheblich, ob die vom Verfolgten befürchtete menschenrechtswidrige Behandlung in slowakischen Haftanstalten objektiv begründet erscheint. Entscheidend ist, dass der Verfolgte infolge seiner psychischen Störung subjektiv aufgrund seiner Furcht vor schwerwiegenden Misshandlungen in slowakischen Gefängnissen keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung sieht.

Auch wenn der Verfolgte nach den plausiblen Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen Dr. ... in seinem Gutachten vom 17. November 2011 offenbar im Rahmen seiner histrionischen Persönlichkeitsstörung zu großer Theatralik neigt, so hat doch der Gutachter bei seiner eingehenden Exploration keine Hinweise dafür gefunden, dass der Verfolgte lediglich simuliert, um der Auslieferung zu entgehen. Vielmehr steht er unter einem großen Leidensdruck und zeigte nach der Einschätzung des forensisch erfahrenen Sachverständigen während des Gesprächs mit ihm durchgehend eine erhebliche Anspannung und psychomotorische Unruhe verbunden mit einem hohen Angstniveau. Zeitweilig wurde seine Schilderung der Vorfälle in der Haftanstalt ... von Weinanfällen überflutet. Die Diplom-Psychologin ..., die den Verfolgten in der JVA Billwerder betreut, hat ebenfalls seinen verzweifelten Gemütszustand beschrieben und geschildert, wie er ihr weinend und zitternd von seiner großen Angst vor der Abschiebung (gemeint: Auslieferung) berichtet und ihr (oberflächliche) Schnittverletzungen auf Höhe der Niere gezeigt habe. Der Sachverständige Dr. ... hat überzeugend ausgeführt, dass aus psychiatrischer Sicht aufgrund des anhaltend instabilen psychischen Zustandsbildes des Verfolgten, der an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung und an einer schweren Depression leidet, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass dieser im Falle seiner Auslieferung in die Slowakische Republik Suizid begeht. Auch bei einer Inhaftierung in irgendeiner anderen Haftanstalt in der Slowakischen Republik ist nach dem psychiatrischen Gutachten von einer hohen Suizidgefahr auszugehen, da die vom Verfolgten geschilderten Ereignisse in der Haftanstalt ... vor dem Hintergrund seines psychopathologischen Erlebens im Rahmen der bei ihm bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung auch auf andere Haftanstalten der Slowakei übertragen werden können. Die Diplom-Psychologin ... ist ebenfalls zu der Einschätzung gelangt, dass die Suizidgefahr auch besteht, falls die Auslieferung unter der Bedingung erfolgt, dass der Verfolgte in einer anderen Haftanstalt (anstelle der Haftanstalt ...) untergebracht wird. Zu demselben Ergebnis ist die Diplom-Psychologin ... gekommen, die regelmäßige und umfangreiche Einzelgespräche mit dem Verfolgten in der JVA Billwerder geführt hat. Sie hält ernsthafte Suizidversuche des Verfolgten im Falle seiner Auslieferung sogar für höchst wahrscheinlich.

Aufgrund dieser übereinstimmenden überzeugenden psychiatrischen und fachpsychologischen Stellungnahmen besteht kein vernünftiger Zweifel, dass eine hohe akute Gefahr besteht, dass der Verfolgte Suizid begeht, wenn er ausgeliefert werden sollte.

III. Da die Auslieferung unzulässig ist, steht § 15 Abs. 2 IRG nunmehr der Anordnung der Auslieferungshaft entgegen. [...]