OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 29.12.2011 - 2 A 216/10.A - asyl.net: M19306
https://www.asyl.net/rsdb/M19306
Leitsatz:

Gehörsverletzung: Die Ablehnung eines Beweisantrags mit der Begründung der Verspätung findet im Prozessrecht keine Stütze, wenn dem Prozessbevollmächtigtem des Klägers der Prozessskostenhilfebeschluss erst am Tag des Fristablaufs zugestellt wird, da aus dem Beschluss erst bekannt geworden ist, auf welche Umstände das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich abstellt.

Auch die Ablehnung des Beweisantrags mit der Begründung, dem Verwaltungsgericht seien mehrere Erkenntnisquellen zu dem Auswirkungen einer Amnestieregelung bekannt, findet im Prozessrecht keine Stütze, wenn die tatsächlich dem Gericht vorliegende einzige Quelle sich auf die Wiedergabe einer Norm (hier: Amnestieregelung) und die Beschreibung der daraus resultierenden Folgen beschränkt, ohne Aussagen über die Anwendung zu machen.

Schlagwörter: rechtliches Gehör, Amnestie, PKK, PKK-Verdacht, Türkei, Beweisantrag, Sachverständigengutachten, Straferlass, Strafreduzierung, Verfolgungsgefahr, Kurden
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3, GG Art. 103 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist wegen Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. [...]

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 01.07.2010 für seine Behauptung, in Umsetzung der sog. Amnestie-Regelung vom 21.12.2000 erfolge tatsächliche keine Straflosstellung/Straferlass von 10 Jahren für unter PKK-Verdacht verfolgte Kurden, Beweis angetreten durch Einholung eines Sachverständigengutachtens (vgl. Seite 3 der Sitzungsniederschrift vom 01.07.2010 i.V.m. Seite 3 des Schriftsatzes vom 28.06.2010).

Das Verwaltungsgericht hat diesen Beweisantrag als verspätet abgelehnt. Der Kläger sei mit gerichtlichem Schreiben vom 28.04.2010 aufgefordert worden, bis zum 24.06.2010 alle Beweismittel abschließend zu bezeichnen. Diese Frist sei nicht gewahrt. Im Übrigen lägen dem Gericht zur Frage der Amnestieregelungen Erkenntnisse vor, so dass es der Einholung weiterer Sachverständigengutachten nicht bedürfe.

Die so begründete Ablehnung des Beweisantrags findet im Prozessrecht keine Stütze.

Zwar trifft es zu, dass dem Kläger mit gerichtlichem Schreiben vom 28.04.2010 eine Frist zur Bezeichnung von Beweismitteln bis zum 24.06.2010 gesetzt worden war. Das Verwaltungsgericht hatte jedoch nach diesem Schreiben mit Beschluss vom 18.06.2010 den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren abgelehnt. In diesem Beschluss wird ausgeführt, soweit der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise Ende 1997 in den Verdacht geraten war, PKK-Kämpfer mit Medikamenten versorgt zu haben, biete dies heute keinen Anknüpfungspunkt mehr für Verfolgungsmaßnahmen. Solche Taten fielen unter die Amnestie vom 21.12.2000, die einen Straferlass von 10 Jahren gewährte. Das bedeutete bei Straftaten mit einer Strafe unter 10 Jahren eine Straffreistellung.

Der Beschluss ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 24.06.2010, also dem Tag des Fristablaufs, zugestellt worden.

Erst durch den Prozesskostenhilfebeschluss ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers bekannt geworden, auf welche Umstände das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich abstellen würde. Für die Bezeichnung von Beweismitteln blieb ihm nach der ursprünglichen Fristsetzung bis zum 24.06.2010 keine angemessene Frist mehr (zum Erfordernis der Angemessenheit der Frist vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 17. Auflage, § 87b Rn. 7 m.w.N.). Wenn das Verwaltungsgericht gleichwohl seinen Beweisantrag aus dem Schriftsatz vom 28.06.2010 unter Hinweis auf die Fristsetzung bis zum 24.06.2010 als verspätet zurückwies, so verletzte es dadurch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör.

Auch die Ablehnung des Beweisantrags mit der Begründung, zur Frage der Amnestieregelungen lägen dem Verwaltungsgericht Erkenntnisse vor, so dass es der Einholung weiterer Sachverständigengutachten nicht bedürfe, wird durch das Prozessrecht nicht gestützt. Weder in dem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts noch im Prozesskostenhilfebeschluss und im verwaltungsgerichtlichen Urteil sind mehrere Erkenntnisquellen zu den Auswirkungen der Amnestieregelung benannt. Im Urteil und im Prozesskostenhilfebeschluss wird dazu lediglich eine Quelle zitiert (Dr. Tellenbach vom 26.11.2006 an das Verwaltungsgericht Osnabrück), die sich im Übrigen im Wesentlichen auf die Wiedergabe des Inhalts der Amnestieregelung vom 21.12.2000 und die Beschreibung der daraus resultierenden Folgen beschränkt. Fälle, in denen die Amnestieregelung tatsächlich zur Geltung gekommen ist, werden nicht angegeben.

Demgegenüber hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers im Schriftsatz vom 26.06.2010 unter Wiedergabe von Ausführungen in einem Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.09.2009 (A 11 K 3775/08) vorgetragen, die Verfolgungsgefahr entfalle noch nicht allein durch den Erlass eines Amnestiegesetzes. Werde die Amnestie nicht von einer damit einhergehenden allgemeinen Liberalisierung getragen und blieben die verfestigten Repressionsstrukturen unverändert, könne der Amnestie auch keine Indizwirkung für den Wegfall der Verfolgungsgefahr zukommen. Durch diesen Vortrag war die Annahme, dass durch die Amnestie vom 21.12.2000 die Verfolgungsgefahr für den Kläger entfallen sei, substantiiert in Zweifel gezogen. [...]