VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 16.11.2011 - 7 K 722/11.WI.A - asyl.net: M19428
https://www.asyl.net/rsdb/M19428
Leitsatz:

Für Personen, bei denen besondere individuelle Risiken bestehen, die sie bei Rückkehr nach Afghanistan einem deutlich erhöhten Existenzrisiko aussetzen würden, insbesondere eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan haben, ist ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen.

Schlagwörter: Versorgungslage, Sicherheitslage, Familienangehörige, Familienverband, Afghanistan, alleinstehende Frauen, alleinerziehend
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Nach den Urteilen des Hess. VGH vom 07.02.2008 - 8 UE 1913/06.A - und vom 26.11.2009 - 8 A 1862/07.A geht die Kammer ebenfalls davon aus, dass jedenfalls für Personen, bei denen besondere individuelle Risiken bestehen, die sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan einem deutlich erhöhten Existenzrisiko aussetzen würden, ein Abschiebungsschutz in Betracht kommt (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 20.02.2008 - 8 UZ 2697/07.A -).

Neben der prekären schlechten Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan wären die Kläger einem erhöhten Risiko im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan ausgesetzt.

Nach ihren widerspruchsfreien bisherigen Angaben vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den glaubhaften Schilderungen der Klägerin zu 1. in ihrer informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Kläger im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan nicht auf den effektiven Schutz eines intakten Familienverbandes zurückgreifen könnten.

In Afghanistan geht die Bedeutung der Familie aber weit über die verwandtschaftlichen Beziehungen der europäischen Kernfamilie hinaus. Familie hat darüber hinaus die überlebenswichtige Funktion der Versorgung und Pflege im Krankheitsfall und bei Betreuung von Frauen und Kindern (Veronika Arendt-Rojahn u.a., Pro Asyl, S. 20:, UNHCR, Auskunft vom 07.04.1998 an VG Hamburg). Bedeutsam wird der Familienverband insbesondere angesichts der Wohnsituation und des desolaten Zustandes des Gesundheitswesens. Es steht somit zu Überzeugung der Kammer fest, dass es der Klägerin zu 1. zusammen mit den minderjährigen Klägern zu 2. und 3. nicht zugemutet werden kann, auch angesichts der höchst prekären Sicherheits- und Versorgungslage, in Afghanistan zu leben, ohne dort in einen schützenden Familienverband aufgenommen zu werden. Als weiterer Risikofaktor kommt hinzu, dass den Klägern aufgrund der Schilderungen der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung über die zerrissenen Familienbande nicht zugemutet werden könnte, nach einer Rückkehr nach Afghanistan mit dem Ehemann bzw. Vater bei der Schwiegermutter der Klägerin zu 1. zu leben. Ein Leben in Afghanistan als alleinstehende Frau mit zwei minderjährigen Kindern wäre der Klägerin zu 1. nicht zumutbar. In der patriarchalischen Gesellschaftsordnung Afghanistans wäre die Klägerin zu 1. außer Stande, durch Arbeit den Lebensunterhalt für sich und die Kläger zu 2. und 3. zu verdienen. Ohne männliche Hilfe und Unterstützung wäre sie schutzlos und der Willkür Dritter preisgegeben.

Aufgrund dieser zusätzlichen Risikofaktoren ist bei der Klägerin von besonderen individuellen Umständen auszugehen, die die ohnehin bestehende Wahrscheinlichkeit extremer Gefahren an Leib und Leben im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan erheblich erhöht. [...]