VG Braunschweig

Merkliste
Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 02.03.2012 - 8 A 363/11 - asyl.net: M19455
https://www.asyl.net/rsdb/M19455
Leitsatz:

Um Familienflüchtlingsschutz gem. § 26 Abs. 4 AsylVfG zu erhalten, ist eine familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Stammberechtigten nicht Voraussetzung.

Schlagwörter: Flüchtling, familiäre Lebensgemeinschaft, Eltern-Kind-Verhältnis, Umgangsrecht, Stammberechtigter, Familienasyl
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, AsylVfG § 26 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die Klage ist begründet, da die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 26 Abs. 4, Abs. 2 AsylVfG hat; der angefochtene Bescheid Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.08.2011 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten und ist daher aufzuheben. [...]

Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn der Antragsteller - wie hier - Familienabschiebeschutz nach § 26 Abs. 4 AsylVfG begehrt. Für die Klägerin liegt eine günstigere Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vor.

Mit Art. 3 Nr. 17 lit. d des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2005 die Vorschrift des § 26 Abs. 4 AsylVfG neu eingefügt. Nach dieser Vorschrift sind die Absätze 1 bis 3 des § 26 AsylVfG, in denen die Regelungen bezüglich der Zuerkennung des Familienasyls enthalten sind, auf Ehegatten und Kinder von Ausländern, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, entsprechend anzuwenden. Das bedeutet, dass ein zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Ausländers, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, auf Antrag ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft erhält, wenn die Anerkennung des Ausländers unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist das Bestehen einer familiären Gemeinschaft zwischen dem stammberechtigten Flüchtling und dem Kind, das Familienabschiebungsschutz begehrt, nicht Voraussetzung des Familienasylanspruchs nach § 26 Abs. 4 AsylVfG [ist]. Nach dem Wortlaut des § 26 Abs. 4 AsylVfG hat das minderjährige, ledige Kind einen Anspruch auf Familienasyl, wenn die Anerkennung des Asylberechtigten Elternteils unanfechtbar und weder zu widerrufen noch zurückzunehmen ist. Da dieser Wortlaut eindeutig ist, besteht hier kein Auslegungsbedarf (so auch Marx, AusIR, 7. Aufl. 2008, § 26 Rdn, 73-75. Auch ausgehend von dem Motiv für die Einführung des Familienasyls, die Anwendung der Regelvermutung der Verfolgung von en-gen Angehörigen zu vereinfachen, liegt es keineswegs nahe, die Vorschrift systematisch auf die (nichtehelichen) Kinder einzuschränken, die mit dem asylberechtigten Elternteil in familiärer Gemeinschaft leben (so etwa Bodenbender in GK-AsylVfG § 26 RZ. 65 m.w.N.). Denn anders als ein Ehepartner kann ein Kind seine Familienzugehörigkeit zu einem Asylberechtigten nicht aufgeben; es ist und bleibt vielmehr unabhängig von der vorhandenen oder nicht vorhandenen familiären Gemeinschaft stets das Kind des Asylberechtigten und daher liegt es nahe, dass es jedenfalls im Heimatland des Asylberechtigten ebenfalls vor Verfolgung geschützt werden muss (so auch Wolf in HK-AuslR, § 26 Rn. 19, 22). Daher muss selbst eine entsprechende einschränkende Auslegung in jedem Fall berücksichtigen, ob das minderjährige Kind die gleiche Staatsangehörigkeit, wie der stammberechtigte Elternteil hat oder nicht. Hat es die nämlich die gleiche Staatsangehörigkeit, so würde es in den Verfolgerstaat des Stammberechtigten abgeschoben und in die Gefahr gebracht, dort als dessen Abkömmling ebenfalls der Verfolgung zu unterliegen.

Die Klägerin war am 12. Juli 2011, dem Zeitpunkt der Antragstellung ihres Folgeantrags, minderjährig, ihrem Vater war aufgrund des bestandskräftigen Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 19.05.2003 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und diese war auch nicht widerrufen worden; zudem hat die Klägerin dieselbe Staatsangehörigkeit wie ihr Vater und würde deshalb in die Russische Föderation abgeschoben.

Der Antrag wurde auch innerhalb der Antragsfrist nach § 51 Abs. 3 VwVfG gestellt. Nach dieser Vorschrift kann der Antrag auf Wiederaufnahme nur innerhalb von drei Monaten nach Kenntnis des Wiederaufnahmegrundes gestellt werden. Voraussetzung für den Beginn der Frist ist die positive Kenntnis aller insoweit maßgeblichen Tatsachen. Eine durch Fahrlässigkeit verschuldete Unkenntnis steht der Kenntnis nicht gleich (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl. 2010, § 51, RdNr. 47). Das Wissen von Vertretern bzw. Bevollmächtigten wird den Beteiligten zugerechnet. Der Begriff der "Kenntnis" ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht gleichbedeutend mit demjenigen der Möglichkeit einer Kenntnisnahme; er setzt vielmehr weitergehend voraus, dass die Möglichkeit einer Kenntnisnahme tatsächlich wahrgenommen worden ist und zu einem konkreten, positiven Kenntnis- oder Wissensstand geführt hat. Von dieser Begrifflichkeit ist auch im Geltungsbereich des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG auszugehen. Für eine gegenteilige Auslegung, die darauf hinausläuft, Kenntnis und Möglichkeit der Kenntnisnahme gleichzusetzen, spricht nicht etwa die Schwierigkeit festzustellen, wann ein Asylbewerber von einer Rechtsänderung Kenntnis erlangt hat (und demzufolge die Antragsfrist laufe). Solche Schwierigkeiten sind vom Gesetzgeber ersichtlich in Kauf genommen worden und mithin nicht durch Auslegung zu vermeiden; im Übrigen treten sie nicht nur im Falle einer Rechtsänderung, sondern auch sonst im Anwendungsbereich des § 51 VwVfG auf, beispielsweise, wenn in Frage steht, ab welchem Zeitpunkt ein neues Beweismittel (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) dem Asylbewerber "zugänglich" war (OVG Münster, Beschluss vom 8.3.2007, - 3 A 4039/06.A -, zitiert nach juris). Die Frist beginnt an dem Tag zu laufen, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat (§ 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG).

Die Kenntnis aller maßgeblichen Tatsachen lag erst mit Zustellung des Beschlusses des Amtsgerichts Bersenbrück vom 13.04.2011 an den damaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 18.04.2011 vor.

Da die Voraussetzungen des § 51 VwVfG somit vorliegen, war das Verfahren wiederaufzugreifen. Der Klägerin, die - wie oben ausgeführt - die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 i.V.m. § 26 Abs. 2 AsylVfG erfüllt, war daher antragsgemäß die Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen. [...]