LG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
LG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 23.02.2012 - 21 Qs 11/12 - asyl.net: M19485
https://www.asyl.net/rsdb/M19485
Leitsatz:

Eine Pflichtverteidigerbeiordnung ist notwendig bei einer Verteidigung gegen den Vorwurf der illegalen Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG), da über die Kenntnis des Wortlauts der einschlägigen Norm des Aufenthaltsgesetzes hinausgehende Rechtskenntnisse vorausgesetzt werden.

Schlagwörter: unerlaubte Einreise, Pflichtverteidiger, Pflichtverteidigung, Beiordnung, Passpflicht, Aufenthaltsrecht, Asylantrag, Sprachkenntnisse, Rechtskenntnisse
Normen: StPO § 140 Abs. 2, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 3, GFK Art. 31 Abs. 1, AsylVfG § 29 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde der Beschuldigten ist statthaft und zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Die Beiordnung eines Verteidigers ist wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten.

Nach § 140 Abs. 2 StPO bestellt der Vorsitzende einen Verteidiger, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Beide Voraussetzungen korrelieren miteinander: Je höher die Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten ist, desto schwieriger kann die Sach- und Rechtslage sein; je schwächer die Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten ist, desto tiefer sind die Maßstäbe bei der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage anzusetzen. Von daher macht insbesondere die Sprachunkundigkeit eines Beschuldigten die Bestellung eines Verteidigers nicht schlechthin erforderlich. So wird bei einfach gelagerten Fällen des Kernstrafrechts auch ein sprach- und rechtsunkundiger Angeklagter mit Hilfe eines beizuziehenden Dolmetschers in der Lage sein, der Hauptverhandlung zu folgen und sich selbst zu verteidigen. Anders ist es hingegen, wenn über Vorwürfe verhandelt wird, die nicht dem allgemein verbreiteten Unrechtsbewusstsein angehören, sondern speziellerer Natur sind (LG Neuruppin, Beschluss vom 14.10.2002 - 11 Qs 167/02, zitiert nach juris).

So verhält es sich vorliegend. Der hier in Rede stehende Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ist in hohem Maße durch normative Tatbestandsmerkmale geprägt. Die Verwirklichung des Tatbestandes hängt gemäß § 14 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG u.a. davon ab, ob für die Einreise des Ausländers in das Bundesgebiet ein Pass oder Passersatz bzw. ein Aufenthaltstitel erforderlich war. Zur Beantwortung dieser Frage wiederum kommt es nach §§ 3, 4 AufenthG unter anderem darauf an, ob der Ausländer durch Rechtsverordnung von der Passpflicht befreit ist bzw. ob aufgrund des Rechts der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung ein Aufenthaltsrecht besteht. Angesichts der seitens der Beschuldigten behaupteten Stellung eines Asylantrages könnte es vorliegend insofern darauf ankommen, ob sich die Beschuldigte auf Art. 31 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention berufen kann oder der Asylantrag nach § 29 Abs. 1 AsylVfG unbeachtlich ist.

Die Verteidigung gegen den Vorwurf eines Verstoßes gegen § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG setzt mithin über die Kenntnis des Wortlauts der einschlägigen Normen des Aufenthaltsgesetzes hinausgehende Rechtskenntnisse voraus. Dass die Beschuldigte über derartige Rechtskenntnisse verfügt oder ohne nennenswerte Schwierigkeiten in der Lage ist, sich diese Kenntnisse zu verschaffen, ist angesichts der Lage der Beschuldigten, namentlich ihrer Sprachunkundigkeit, ihres Alters und ihrer gegenwärtigen Lebenssituation, nicht anzunehmen. [...]